Über die Rolle der Kirche: Interview mit EKD-Ratsvorsitzendem Heinrich Bedford-Strohm

Von Eva Quadbeck
Foto: picture alliance/dpa

Auch die Kirchen suchen zu Beginn der 20er-Jahre ihre Rolle in einer immer komplexeren und polarisierten Gesellschaft. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat Verständnis für die Schwierigkeiten der Politik, will moralische Fragen weiter öffentlich diskutieren und glaubt, dass Jesus getwittert hätte.

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Herr Bedford-Strohm, vor 75 Jahren hat Dietrich Bonhoeffer in Nazigefangenschaft kurz vor seinem Tod die Verse geschrieben: Von guten Mächten treu und still umgeben / behütet und getröstet wunderbar / so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr. Warum sind diese Zeilen heute immer noch populär?

Sie bringen auf eine besondere Weise auf den Punkt, worum es beim christlichen Glauben geht. Die Biografie Bonhoeffers zeigt, dass die Rede vom Geborgensein in Gottes Hand nichts ist, was die ganzen Konflikte der Welt beiseiteschiebt. Aber genau deswegen ist dieses Zitat so kraftvoll. Ein Mensch, der selbst im Gefängnis sitzt, ein Mensch, der selbst wegen seines Eintretens für die Menschenwürde sein Leben riskiert hat, ein solcher Mensch bringt in einer tiefen Frömmigkeit zum Ausdruck, was es heißt, dass Gott am Ende das letzte Wort hat, nicht der Hass, nicht die Gewalt.

Sehen Sie die Gefahr, wonach Polarisierung und Intoleranz gegenüber Fremden in unserer Gesellschaft ein Ausmaß annehmen, dass sich Mechanismen der Weimarer Republik wiederholen?

Man sollte vorsichtig sein mit historischen Vergleichen. Die Demokratie ist heute in einer ganz anderen Art und Weise im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Die Unterstützung für die politischen Kräfte, die beispielsweise die Erinnerungskultur an die Verbrechen der Nazizeit infrage stellen, liegt unterhalb von 20 Prozent. Die große Mehrheit der Bürger wählt Parteien, die die Demokratie starkgemacht haben.

Gerade haben die 20er-Jahre begonnen. Müssen wir dennoch 100 Jahre danach besonders wachsam sein?

Wir müssen immer wachsam sein. Anzeichen für gesellschaftliche Spaltung und Extremismus, die es damals gegeben hat, müssen wir auch heute ernst nehmen. Deswegen freue ich mich darüber, dass so viele Menschen auf die Straße gehen und für die Menschenwürde demonstrieren. Wir haben eine starke Zivilgesellschaft, die sichtbar wird, wenn es darauf ankommt. Ich freue mich auch darüber, dass insbesondere junge Menschen Fehlentwicklungen erkennen und etwas dagegen unternehmen – wie beispielsweise die Fridays-for-Future-Bewegung für den Klimaschutz. Dieser starke Impuls der Bewegung muss nun politisch umgesetzt werden. Auch diejenigen, die auf die Straße gehen, müssen bereit sein, die Mühe auf sich zu nehmen, im politischen Betrieb Mehrheiten zu organisieren.

Politisches Engagement ist heute auch mit persönlichem Risiko verbunden. Wie sehr besorgt es Sie, dass manche Kommunalpolitiker aufgeben, weil sie den Hass nicht mehr ertragen, der ihnen entgegenschlägt?

Diese Entwicklung ist eine Gefahr für die Demokratie. Im demokratischen Prozess sollten eigentlich die Besten ausgewählt werden. Heute muss man sich zunehmend die Frage stellen: Wer tut sich das noch an? Ein politisches Amt ist heute manchmal nicht mehr vor allem mit Ehre verbunden, vielmehr muss man vor allem in der Kommunalpolitik mit Beschimpfungen rechnen. Es gibt leider in Teilen der Bevölkerung eine ablehnende Grundhaltung gegenüber der Politik, die alle Politiker in einen Topf wirft. Auch wenn dies letztlich kleine Teile der Bevölkerung sind, machen sie sich lautstark bemerkbar und beschädigen die politische Kultur. Dem widerspreche ich in aller Entschiedenheit. Die meisten Politiker haben Ideale und versuchen, sie umzusetzen.

Was die Leute so nervt, ist das Schielen auf die nächste Wahl.

Da sind Politiker in einem Dilemma. Wer seine Ideale umsetzen möchte, muss gewählt und auch wiedergewählt werden. Es ist nicht verwerflich, wenn sich ein Politiker Gedanken macht, wie er seine Botschaft so präsentiert, dass er dafür Mehrheiten bekommt.

Was können die Kirchen beitragen, die Stimmung in der Gesellschaft wieder versöhnlicher werden zu lassen?

Die Kirchen sollten alles stützen, was dem Gemeinsinn dient. Dazu brauchen wir soziale Bewegungen, dazu brauchen wir auch klare Worte. Auch die Kirchen müssen sich klar positionieren – aber nie vom hohen moralischen Podest.

Der evangelischen Kirche wird oft vorgeworfen, dass sie zu sehr moralisiert.

Das weise ich ausdrücklich zurück. Es ist ein Unterschied, moralische Fragen in die öffentliche Debatte einzubringen oder die öffentliche Debatte zu moralisieren. Letzteres sollten wir nicht tun, das Erste aber ist elementare Aufgabe der Kirche. Wer soll denn sonst diese Themen in die Öffentlichkeit bringen, wenn die Kirchen es nicht machen? Wir würden unseren Auftrag zutiefst missachten, wenn wir solche moralischen Fragen nicht stellen.

Wo haben die christlichen Kirchen überhaupt noch einen entscheidenden Einfluss angesichts ihrer sinkenden Mitgliederzahlen?

Auch heute gehört deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung einer der großen christlichen Kirchen an. Aber heute werden die Menschen aus freier Entscheidung Mitglied von Organisationen.

In die Kirche wird man durch Taufe aufgenommen.

Ja, die meisten erfahren die Taufe nach wie vor als kleines Kind, damit sie in eine Tradition hineinwachsen können. Bei der Konfirmation können sie sich dafür oder dagegen entscheiden, der Kirche anzugehören, und auch Erwachsene können sich jederzeit dafür oder dagegen entscheiden. Die Taufe ist nicht mehr eine Art Garantie, dass ein Mensch ein Leben lang in der Kirche bleibt. Vielmehr müssen die Kirchen in einer Zeit, in der es viele Orientierungsangebote gibt, überzeugen, dass der christliche Glaube als Grundlage für das eigene Leben das Beste ist, was einem passieren kann.

Sie twittern ja auch – sind die sozialen Netzwerke nützlich bei der Verbreitung der Botschaft Gottes?

Ich bin auch auf Facebook, wo ich über meine alltägliche Arbeit berichte. Die sozialen Netzwerke sind für die Kirchen allein deswegen wichtig, weil viele Menschen dort viel Zeit verbringen. Also muss auch die Kirche dort präsent sein. Dazu gehört, dass wir manche Fehlentwicklungen kritisieren, die sich durch die neuen Medien ergeben.

Was meinen Sie konkret?

In den sozialen Netzwerken werden aus kommerziellen Gründen durch bestimmte Algorithmen häufig Inhalte nach oben gespült, die Hass transportieren und Unwahrheiten verbreiten. Nicht mehr Fakten sind dann die Grundlage für den Diskurs, sondern Inhalte, die der Rentabilität der sozialen Medien dienen. Das stärkt die Extreme. Das können wir nicht so hinnehmen. Es muss analog zu den öffentlich-rechtlichen Medien pluralistisch zusammengesetzte Gremien geben, die grundsätzliche Kriterien auch für den Diskurs in den sozialen Netzwerken durchsetzen. Wir möchten als Kirchen gern dazu beitragen, die Digitalisierung verantwortlich zu gestalten.

Hätte es vor 2000 Jahren schon Twitter gegeben, hätte Jesus getwittert?

Jesus hat seine Botschaft durch die Kraft seiner Worte verbreitet. Er hat sie so stark genutzt, dass wir seine Worte heute immer noch verbreiten und sie uns Orientierung geben. Deswegen bin ich ziemlich sicher, dass er auch die technologischen Möglichkeiten genutzt hätte, wenn sie schon da gewesen wären. Aber wir sollten immer vorsichtig damit sein, etwas in Jesus hineinzuprojizieren, was wir heute tun.

Sie haben die Mechanismen in den sozialen Netzwerken als eine Ursache für die Spaltung der Gesellschaft beschrieben. Wie sieht es mit dem Gegensatz zwischen Eliten und Normalbevölkerung aus?

Es gibt nicht die Unterteilung in gute und schlechte Menschengruppen. In uns selbst gibt es auch unterschiedliche Anteile, daher ist in der Bibel immer wieder die Rede von der Sünde. Nach Martin Luther bedeutet Sünde die Verkrümmung des Menschen in sich selbst. Um die soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft müssen wir uns allerdings Sorgen machen. Es kann keinem Menschen erklärt werden, dass jemand, der im Krankenhaus die Toiletten putzt, jeden Tag damit kämpfen muss, ob er mit dem Geld auskommt, während andere Menschen allein dadurch, dass sie Geld für sich arbeiten lassen, Milliardenvermögen anhäufen. Eine Antwort darauf ist mehr soziale Gerechtigkeit mit einem höheren Mindestlohn und einer gerechteren Vermögensverteilung. Das ist eine zentrale Herausforderung für die nächste Dekade.

Ist der frühere sächsische Landesbischof Carsten Rentzing, der wegen früherer rechtsradikaler Schriften sein Amt räumen musste, eine Ausnahme in der EKD?

Es gibt rote Linien. Rechtsextremismus hat keinen Platz in der evangelischen Kirche. Konservative haben hingegen selbstverständlich einen Platz in unserer Kirche. Konservativ zu sein, heißt ja nicht rechtspopulistisch oder rechtsextrem zu sein. Carsten Rentzing war für konservativ denkende Menschen als Bischof eine Identifikationsfigur in der Kirche. Das habe ich immer ausdrücklich begrüßt. Eine Nähe zum Rechtsextremismus lässt sich bei Carsten Rentzing heute keinesfalls feststellen. Was damals in diesen Texten stand, so denkt er nicht mehr.

Was haben Sie aus dem Fall gelernt?

Dass Kommunikation eine zentrale Rolle spielt und dass eine transparente Reaktion auf kritische Anfragen immer der beste Weg ist.

Wie weit sind Sie mit Ihrem Projekt eines zivilen Rettungsschiffs für Flüchtlinge im Mittelmeer, „United4Rescue“?

Das hat eine ungeheure Dynamik bekommen. Mittlerweile beteiligen sich 150 Organisationen. Es sind viele Organisationen aus dem kirchlichen Bereich. Darüber freue ich mich sehr. Hinzu kommen viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit Flüchtlingen beschäftigen, aber auch die Arbeiterwohlfahrt und die Stadt Palermo. Das Bündnis ist sehr breit. Uns unterstützen auch einzelne Persönlichkeiten wie der Regisseur Wim Wenders.

Wann werden Sie über das Schiff verfügen?

Das Bündnis verfolgt den konkreten Plan, Ende Januar die „Poseidon“ aus dem Besitz des Landes Schleswig-Holstein zu kaufen. Wir wissen aber noch nicht, wie das Bieterverfahren ausgeht. Für den Fall, dass das nicht funktioniert, gibt es einen Plan B, ein anderes Schiff zu besorgen. Dabei hilft uns Seawatch, die den europäischen Schiffsmarkt dafür im Blick haben. Ziel des Bündnisses ist es aber nicht nur, Spenden für den Kauf eines Schiffes zu sammeln, sondern die Unterstützung der aktiven Seenotrettung insgesamt.

Wie hoch sind die Spenden bisher?

Wir lassen uns nicht dauernd Zwischenstände aus dem Bündnis geben, jede einzelne Spende unter www.wirschickeneinschiff.de hilft uns bei der Unterstützung der Seenotrettung.

Wäre es nicht viel besser, wenn wir eine europäische Seenotrettung hätten, als wenn immer mehr zivile Retter in See stechen?

Ja, selbstverständlich brauchen wir eine Wiederaufnahme der staatlichen Seenotrettung. Selbstverständlich benötigen wir einen politisch garantierten Verteilmechanismus für Flüchtlinge in Europa, der das unwürdige Verhandeln über gerettete Flüchtlinge auf Schiffen überwindet. Und natürlich ist es das Allerwichtigste, Fluchtursachen zu bekämpfen. Das tun wir als Kirchen seit Jahrzehnten. Da stehen wir Kirchen in der ersten Reihe. Unser Schiff ist nur Teil einer Gesamtstrategie für einen humanitären Umgang mit Flucht.

Das Gespräch führte Eva Quadbeck

Heinrich Bedford-Strohm wurde am 30. März 1960 in Memmingen (Bayern) geboren. Er studierte in Erlangen, Heidelberg und Berkeley Theologie, Rechtswissenschaften, Geschichte und Politikwissenschaften. Seit 2014 ist er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er folgte auf Nikolaus Schneider. Der bayerische Landesbischof ist mit Psychotherapeutin Deborah Bedford-Strohm aus Boston (USA) verheiratet. Bedford-Strohm ist Mitglied der SPD. 2016 geriet er in die Kritik, weil er bei einem gemeinsamen Besuch des muslimischen Felsendoms mit Kardinal Reinhard Marx das christliche Brustkreuz ablegte.