Türkei-Pakt schafft explosive Stimmung unter Flüchtlingen: Bloß nicht zurück!

Ein bisschen Alltag im improvisierten Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze: Eine Frau hängt Wäsche auf. Einige der Migranten sollen von heute an in die Türkei zurückgeschickt werden. Die Anspannung sowohl bei der Polizei als auch bei den Flüchtlingen ist hoch.
Ein bisschen Alltag im improvisierten Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze: Eine Frau hängt Wäsche auf. Einige der Migranten sollen von heute an in die Türkei zurückgeschickt werden. Die Anspannung sowohl bei der Polizei als auch bei den Flüchtlingen ist hoch. Foto: AFP

Hoffentlich geht das gut – diesen Satz hört man dieser Tage auf fast allen Inseln der Ostägäis. Von dort startet heute im Rahmen des Flüchtlingspakts ein waghalsiges Unternehmen, das dem Flüchtlingszustrom aus der Türkei nach Griechenland und damit in die Europäische Union ein Ende bereiten soll: die Rückführung der Menschen in die Türkei. Die Stimmung unter den Migranten ist explosiv. Mantraartig wiederholen sie: „Tötet uns lieber gleich hier, statt uns zurück in die Türkei zu schicken.“

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Die EU-Sicherheitsexperten haben schon einen Plan ausgearbeitet, wer als Erstes wie und wann ausgewiesen werden soll. Demnach sollen es heute zunächst rund 200 Menschen aus dem Internierungslager von Moria auf der Insel Lesbos sein. Es soll sich dabei um jene Menschen handeln, die keinen Asylantrag stellen wollten oder aus Staaten stammen, die als sichere Drittländer gelten – etwa Marokko, Algerien, Tunesien oder Pakistan, heißt es aus Kreisen der Küstenwache.

Gleichgültig jedoch, welcher Nationalität: Wie diese Menschen aus dem Lager in Moria herausgeholt werden sollen, darüber schweigen die Sicherheitsexperten. Derzeit halten sich dort mehr als 3000 Menschen auf; seit Inkrafttreten des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei am 20. März sind sie dort de facto interniert. Griechische Sicherheitskräfte bezweifeln, dass sich die betreffenden 200 aus diesen vielen Menschen heraus einfach so abführen lassen.

Jedem Flüchtlingen ein Polizist an die Seite stellen

Gelingt es jedoch, dann geht es anschließend in Bussen zum Hafen der Inselhauptstadt Mytilini. Jeder einzelne Migrant soll dabei nach Informationen der staatlichen Nachrichtenagentur ANA von einem Polizisten begleitet werden. Und es soll rasch gehen: Alle Migranten werden am Hafen umgehend an Bord des von griechischen Behörden gemieteten türkischen Touristenboots „Nazli Jale“ gebracht. Danach geht es geradewegs zum 28 Kilometer entfernten türkischen Hafen Dikili. „Die Planung ist schön, aber wenn ich an die Realität denke, dann kriege ich Schweißausbrüche“, sagt ein Offizier der Küstenwache auf der Insel Chios wenige Stunden vor der geplanten Aktion.

An Ort und Stelle nämlich erleben die Behörden das absolute Chaos: Auf Chios sind am Freitag Hunderte Migranten und Flüchtlinge aus dem „Hotspot“ ausgebrochen, in dem sie bisher festgehalten wurden, um sie später in die Türkei zurückzuführen. Sie harren seitdem am Hafen von Chios aus in der Hoffnung, eine Fähre nach Athen besteigen zu können. „Athen, Athen“ und „Deutschland, Deutschland“ skandieren sie immer wieder, sobald sie einen Reporter sehen. „Wie wir diese Leute – darunter auch die vielen Kinder mit ihren Müttern – aus diesem Chaos rauspicken sollen, ist mir ein Rätsel“, klagt der Offizier der Küstenwache.

Wo bleibt die Staatsmacht?

Viele Einwohner von Chios, die den Migranten geholfen hatten, sind jetzt besorgt. „Hier hat der (griechische) Staat praktisch aufgehört zu existieren“, sagt Giannis Tzoumas, ein Journalist aus Chios, der einen der lokalen Radio- und Fernsehsender leitet. Die Regierung habe die Übersicht verloren, die Migranten machten auf Chios, „was sie wollen“. Sogar die Fähren werden umgeleitet, damit die Migranten nicht an Bord gelangen und nach Athen reisen können. Sie legen jetzt für den normalen Passagierverkehr auf der westlichen Seite der Insel im kleinen Hafen von Mestá an.

Abzuwarten bleibt trotz all den Anstrengungen im Vorfeld allerdings noch, ob der gewünschte Effekt des Flüchtlingspakts irgendwann auch eintritt: die abschreckende Wirkung. Am Wochenende haben nämlich, unbeeindruckt von der europäischen Rückführungsaktion, wieder mehr als 1000 neue Migranten aus der Türkei zu den griechischen Inseln übergesetzt.

Alexia Angelopoulou/ Takis Tsafos