USA

Trump vs. Biden: Warum der US-Präsident die Wahl noch längst nicht verloren hat und wer darüber entscheidet

Von Christian Kunst
Szenen einer tiefen gesellschaftlichen und politischen Spaltung, die US-Präsident Donald Trump weiter verschärft hat und für seine Zwecke ausnutzt: In New York demonstrieren Gegner des Republikaners mit scharfen Parolen gegen den Mann im Weißen Haus.
Szenen einer tiefen gesellschaftlichen und politischen Spaltung, die US-Präsident Donald Trump weiter verschärft hat und für seine Zwecke ausnutzt: In New York demonstrieren Gegner des Republikaners mit scharfen Parolen gegen den Mann im Weißen Haus. Foto: picture alliance / Erik Mcgregor

Es klingt bizarr: Am 3. November können zwar mehr als 240 Millionen Amerikaner über den nächsten US-Präsidenten abstimmen. Doch am Ende dürften einige Zehntausend Stimmen entscheidend sein. „Es geht um etwa 80.000 Wähler, die entscheiden, wer neuer Präsident wird“, sagt Dr. David Sirakov, Leiter der Atlantischen Akademie in Kaiserslautern. Worauf es im Wahlkampf ankommt, erklärt Sirakov im Interview mit unserer Zeitung

Lesezeit: 6 Minuten
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Nach vier Jahren voller Affären fragen sich viele Deutsche, warum Donald Trump die Präsidentschaftswahl überhaupt noch gewinnen kann. Wie ist das möglich?

Weil das amerikanische Wahlvolk auf mehr schaut als diese Affären. Es geht vielen im Kern darum, wie es ihnen persönlich geht – ökonomisch und sozial. Das treibt die Menschen in den USA viel stärker an als Skandale des Präsidenten. Zugleich gibt es Trumps harte Kernwählerschaft, die alles mitträgt und verteidigt, was dieser Präsident macht. Das zeigt sich auch bei der Steueraffäre. Für Trump-Anhänger ist das keine Affäre, sondern ein Beleg dafür, wie smart der Präsident ist, weil er wisse, wie man mit den Steuergesetzen umgeht. Aus dieser Sicht ist es ganz normal, dass ein Unternehmer versucht, Steuern zu sparen.

Solche Affären werden also nicht wahlentscheidend sein?

Wir erleben unter Trump, dass Dinge, die früher über das Wohl und Wehe von Präsidenten entschieden haben, nicht mehr dieselben Folgen haben. Die Zahl von Skandalen, problematischem Verhalten, fragwürdigen Äußerungen und Lügen ist hoch – und doch bleibt dies folgenlos. Das ist beispiellos.

Liegt das an den tiefen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern? Die einen verdammen Trump, die anderen vergöttern ihn.

Ja. Und Trumps Person und die Wahlen von 2016 haben dies verschärft. Trump polarisiert. Er muss es, weil er nur dann gewählt wird. Dadurch entstehen zwei Lager: das eine, das ihn bedingungslos unterstützt, und das andere, das ihn fundamental ablehnt. Und doch können Trumps Affären wahlentscheidend sein, indem sie unentschlossene Wähler beeinflussen.

Wie?

Beispiel Steueraffäre: Trumps jetzt von der „New York Times“ veröffentlichte Steuerunterlagen zeigen, dass das Bild des erfolgreichen Milliardärs in großen Teilen nicht zutrifft. Das passt in ein größeres Bild von ihm, das die Demokraten zeichnen. Es folgt der Erzählung, dem Narrativ: Trump kann man nicht vertrauen. Und das Vertrauen wurde mehrfach erschüttert. Auch bei der Corona-Pandemie hat er die Amerikaner hinters Licht geführt, indem er das Virus und die Krise öffentlich heruntergespielt hat, obwohl er – wie man jetzt durch Bob Woodwards Recherchen weiß – das Problem sehr früh erkannt hat. Diese Vertrauenskrise könnte gerade bei unentschiedenen Wählern eine Rolle spielen.

Was weiß man noch darüber, wonach diese Wechselwähler ihre Entscheidung treffen?

Sie entscheiden meist aufgrund einer Momentaufnahme, also oft sehr spontan. Dabei geht es zumeist um die eigene wirtschaftliche Situation rund um den Wahltag. Zugleich ist die Frage „Wie geht es mir wirtschaftlich?“ zentral für die Mobilisierung der Wähler. Das schlägt sich auch in Trumps Wahlkampfstrategie nieder: Er versucht ständig, den Fokus der Bürger von der Corona-Krise zur Wirtschaft zu lenken.

Seine Erzählung lautet: Bis zur Corona-Krise ging es der Wirtschaft prächtig, und ich bin der Richtige, um die Konjunktur wieder anzukurbeln. Interessanterweise zeigt sich in Umfragen, dass die Wähler Trump bei genau einer Kompetenz mehr zutrauen als Joe Biden: Wirtschaft und Jobs. Daher wird Trump jeden Anstieg der Wirtschaftskraft und jedes Minus bei den Arbeitslosenzahlen mit seiner Politik in Verbindung bringen.

Während Trump im Militärkrankenhaus Walter Reed in Bethesda nach einer Corona-Infektion behandelt wird, versammeln sich dort seine treuen Anhänger.
Während Trump im Militärkrankenhaus Walter Reed in Bethesda nach einer Corona-Infektion behandelt wird, versammeln sich dort seine treuen Anhänger.
Foto: picture alliance/dpa

Wie viele Wähler in welchen Bundesstaaten entscheiden die Wahl?

Auf der Basis der Wahl von 2016 kann man sagen: Es geht um etwa 80.000 Wähler, die entscheiden, wer neuer Präsident wird. Das waren die Stimmen, die Hillary Clinton 2016 in den drei Bundesstaaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania gefehlt haben. Dieses Mal wird es neben diesen drei Bundesstaaten auch in Florida besonders spannend werden. Laut Umfragen haben knapp 90 Prozent der Wähler ihre Entscheidung schon getroffen. Also sind ungefähr 10 Prozent noch unentschieden.

Auch in den Swing States gilt ja: Die Städte sind meist demokratisch geprägt, das Land ist fest in Trumps Händen. Geht es also auch hier um das Mischgebiet, die Vororte?

Ja. Das ist das zentrale Kampfgebiet, der Battleground zwischen Trump und Biden. Manchmal geht es da nur um die schiere Menge an Vorortbezirken, die der eine oder andere für sich gewinnen kann. Deshalb spielt gerade hier die Mobilisierung der eigenen Anhänger eine entscheidende Rolle. 2016 ist es für Hillary Clinton so eng geworden, weil demokratische Wähler in diesen Battlegrounds in zu geringer Zahl zur Wahl gegangen sind.

Was ist eher entscheidend in diesen umkämpften Vororten in den Wechselwählerstaaten: die Rassismusdebatte oder die wirtschaftliche Lage?

Ganz klar die Wirtschaft, weil die Vororte von der klassischen weißen Mittelschicht geprägt sind. Ganz entscheidend sind hier vor allem die weißen Frauen. Trump umgarnt diese Frauen geradezu, indem er mit rassistischen Anspielungen Wahlkampf macht. So propagiert er, dass er ein Programm gestoppt hat, das ärmeren Menschen ermöglicht, in besser gestellten Nachbarschaften Häuser zu kaufen.

Und er begründet dies damit, dass er Frauen davor schützen müsse, Opfer von Verbrechen zu werden. Damit kriminalisiert er einen Teil der amerikanischen Gesellschaft, Afroamerikaner und Latinos. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Donald Trump 2016 mit der Aussage in den Wahlkampf gestartet ist, dass Mexikaner Verbrecher und Vergewaltiger sind.

Wird die Wahlnacht vom 3. auf den 4. November wieder eine lange?

Da sich die Wahl vor allem in ostküstennahen Bundesstaaten entscheidet, wird man in Deutschland sehr früh wissen, ob es für Joe Biden klappen könnte – wenn es da nicht die Briefwahl gäbe.

David Sirakov
David Sirakov
Foto: privat

Das heißt? Müssen wir im Zweifelsfall lange aufs Ergebnis warten?

Ja. Es ist nicht zu erwarten, dass wir am 4. November ein abschließendes Ergebnis haben. Es kann passieren, dass in Bundesstaaten, die eine Briefwahl ermöglichen, der Stichtermin für die Briefwahl mit dem Wahltag zusammenfällt. In einigen Bundesstaaten muss der Brief sogar erst am Wahltag gestempelt sein. Er ist dann also noch nicht einmal angekommen. Deshalb kann die Auszählung dauern. In einigen Bundesstaaten kann der Wahlabend also mit nur 60 oder 70 Prozent der ausgezählten Stimmen enden. In umkämpften Bundesstaaten wird sich dann keiner trauen, die Wahl für entschieden zu erklären. Und es gibt zudem das Problem der sehr ungleichen Briefwahl.

Das heißt?

Es gibt republikanisch dominierte Staaten, die die Möglichkeit der Briefwahl sehr stark eingeschränkt haben. Entweder ist die Briefwahl gar nicht möglich, oder man braucht einen sehr guten Grund für eine solche Stimmabgabe. Es gibt derzeit in einigen Bundesstaaten eine kontroverse Diskussion darüber, ob die Corona-Pandemie ein solcher Grund ist. Dahinter steckt natürlich das Bestreben der Republikaner, eine größere Wahlbeteiligung zu verhindern. Trump hat ja selbst öffentlich eingeräumt: Je höher die Wahlbeteiligung ist, umso schwieriger wird es für die Republikaner.

Ist dann nicht absehbar, dass der Streit nach der Wahl weitergeht?

Ja. Wenn das Ergebnis nicht direkt vorliegt und die Stimmen der Briefwahl, deren Rechtmäßigkeit Trump zu Unrecht anzweifelt, noch nicht ausgezählt sind, wird er Zweifel am Ergebnis säen. Daher hängt viel davon ab, wie klar die Wahl ausgeht. Nur wenn Trump mit drei bis vier Bundesstaaten im Rückstand ist, dürfte es ihm schwerfallen, von einer Wahlfälschung zu sprechen.

Aber: Wenn es knapp wird, dürfte Trump bis zum Obersten Gerichtshof ziehen. Und da wird er aller Voraussicht nach eine konservative Mehrheit von sechs zu drei Stimmen haben. Es wird dann sehr spannend sein, wem sich die von Trump benannten Richter verpflichtet fühlen: der Verfassung oder dem noch amtierenden Präsidenten.

Es gibt den Begriff der Oktoberüberraschung. Was könnte das sein? Trumps Covid-Erkrankung?

Da ist vieles vorstellbar, auch der gesundheitliche Zustand von Trump und Biden. Die Corona-Infektion des Präsidenten, seiner Frau und einer nicht gerade kleinen Zahl von Mitgliedern der Administration zeigt deutlich, dass das Weiße Haus die gültigen Hygieneregeln gar nicht oder nur unzureichend umgesetzt hat.

Zugleich stehen dem Präsidenten sämtliche medizinischen Ressourcen bei der Behandlung zur Verfügung – ganz im Gegenteil zu einem sehr großen Teil der Amerikaner, deren Gesundheitsversicherung von Trump und den Republikanern zunehmend ausgehöhlt wird. Aber ob diese Umstände bei den Wählern letztlich so wirksam sind, ist offen. Trump hat die Wahl 2016 trotz sexistischer Äußerungen gewonnen.

Viele Deutsche dürfte es wundern, dass diese Wahl so knapp ist. Hat Deutschland ein schiefes Bild von den USA – ist da mehr ein Idealbild denn ein Verständnis dafür, was die Amerikaner tatsächlich umtreibt?

Das hat etwas mit enttäuschten Erwartungshaltungen zu tun. Viele Deutsche, aber auch Amerikaner sind erschüttert, dass ein Präsident Trump möglich geworden ist. Die Rassismusdebatte zeigt aber, dass es gefährlich ist, mit dem Finger auf andere zu zeigen, dabei aber zu übersehen, dass es auch in der eigenen Gesellschaft einen strukturellen Rassismus gibt.

Dass wir uns so stark an den USA abarbeiten, liegt daran, dass Amerika sehr lange eine Art Projektionsfläche für die Deutschen war. Und viele von uns blicken über den Atlantik durch die Brille der eigenen demokratischen Vorstellungen. Wenn wir sehen, dass Trump die Wahl gewonnen hat, obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, dann widerspricht das unseren Vorstellungen.

Das verkennt, dass das Wahlsystem in den USA das Ergebnis eines langen Prozesses des Aushandelns zu Beginn der Vereinigten Staaten ist. Daran wird sich auch in absehbarer Zukunft nichts ändern, weil die verfassungsrechtlichen Hürden hierfür zu hoch sind. Insbesondere die Republikaner fürchten, dass ansonsten große Staaten wie Kalifornien die Wahlen allein entscheiden könnten.

Das Gespräch führte Christian Kunst

Diskutieren Sie mit unseren Experten!

Jetzt sind es nur noch etwas mehr als drei Wochen, bis die Amerikaner am 3. November ihren nächsten Präsidenten wählen. Wie wahrscheinlich ist eine Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident? Wie hoch sind die Chancen seines demokratischen Herausforderers Joe Biden? Darüber können Sie online mit unseren Experten am heutigen Montag, 12.

Oktober, von 18 bis 19.30 Uhr diskutieren. Nach Ihrer Anmeldung auf Rhein-Zeitung.de/Wissen erhalten Sie den Zugangslink zu der Veranstaltung. Als Experten nehmen an der Debatte teil: Sophia Becker von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christoph von Marschall vom „Tagesspiegel“, David Sirakov von der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz und Christian Kunst, Politikredakteur unserer Zeitung und USA-Kenner.

Leibarzt: Trump ist nicht mehr ansteckend

Nach seiner Covid-19-Erkrankung ist US-Präsident Donald Trump laut seinem Leibarzt nicht mehr ansteckend. Der jüngste Coronavirus-Test habe nach „gegenwärtig anerkannten Standards“ gezeigt, dass der Präsident „kein Übertragungsrisiko für andere mehr darstellt“, erklärte Mediziner Sean Conley in einem Schreiben. Trump plant ab heute wieder große Wahlkampfauftritte.

Am Samstag sprach er bereits von einem Balkon des Weißen Hauses aus knapp 20 Minuten lang zu mehreren Hundert Anhängern auf dem Gelände. Trump könne nun, rund zehn Tage nach dem Auftreten erster Symptome, gemäß den Kriterien der Gesundheitsbehörde CDC seine freiwillige Quarantäne beenden, erklärte der Arzt. Die Tests im Verlauf seiner Erkrankung hätten eine stets abnehmende Viruskonzentration gezeigt, schrieb Conley weiter.
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