Scheindokus: Die tun ja nur so!


Die Quote: 30 Prozent Marktanteil erreichen die RTL-Pseudodokus am Nachmittag regelmäßig bei den jungen Zuschauern – teilt RTL-Sprecher Christian Körner mit.
Die Quote: 30 Prozent Marktanteil erreichen die RTL-Pseudodokus am Nachmittag regelmäßig bei den jungen Zuschauern – teilt RTL-Sprecher Christian Körner mit.
Foto: Svenja Wolf

Zwischenfall an einer Schule, ein Lehrer wird überfallen – er galt als unbeliebt. Jetzt hat er eine blutende Wunde am Pädagogenkopf. Doch wer war‘s? Ein Fall für die „Schulermittler“, die jeden Tag um 17 Uhr im RTL-Nachmittagsprogramm für Recht und Ordnung an der Schule sorgen. Die „aggressive Iris“ gerät unter Verdacht. Doch die 16-jährige Blondine bestreitet die Tat: „Ich hab diesen Walter nicht vom Fahrrad geschubst!“

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Zwischenfall an einer Schule, ein Lehrer wird überfallen – er galt als unbeliebt. Jetzt hat er eine blutende Wunde am Pädagogenkopf. Doch wer war‘s? Ein Fall für die „Schulermittler“, die jeden Tag um 17 Uhr im RTL-Nachmittagsprogramm für Recht und Ordnung an der Schule sorgen. Die „aggressive Iris“ gerät unter Verdacht. Doch die 16-jährige Blondine bestreitet die Tat: „Ich hab diesen Walter nicht vom Fahrrad geschubst!“

Wer ein paar Folgen von „Die Schulermittler“ schaut, bekommt den Eindruck, dass an Deutschlands Schulen das totale Chaos herrscht. Da wird geprügelt und getreten, da platzen alle Konflikte einer multikulturellen Gesellschaft aufs Übelste an die Oberfläche, da sind nur gestörte und verstörte Jugendliche unterwegs. Und die Letzten, die sich dem Untergang entgegen stellen, sind die Schulsozialarbeiter, die gemeinsam mit Polizisten die „Fälle“ aufdecken.

Das Beruhigende: Nichts von dem, was bei den „Schulermittlern“ im Fernsehen zu sehen ist, ist wahr. Es soll nur so wirken. Die tun nur so, als ob.

„Die Schulermittler“ ist ein Beispiel für sogenannte „Scripted Documentarys“, für Scheindokumentationen, die nicht die Realität abbilden, sondern nur mit den Mitteln der Reportage Authentizität vortäuschen. So entsteht oft ein Zerrbild der Wirklichkeit – die Formate sind ein höchst umstrittener Auswuchs des Quotenkampfs. Seit ein paar Wochen ist das Genre, das Tag für Tag über den Schirm flimmert, schwer ins Gerede gekommen. Warum eigentlich?

Eigentlich macht RTL alles richtig. Im Vorspann der „Schulermittler“ steht, dass alles ausgedacht ist – ganz klein am unteren Bildschirmrand. Die Geschichte sei geschrieben vom „Autorenteam Stampfwerk“. Auf deren Internetseite ist die „Philosophie“ der Produktionsfirma nachzulesen: „Wir zeigen, was Menschen bewegt. Und wir transportieren Emotionen zu den Menschen, die unsere Programme empfangen.“

Es geht ums Geschäft

Geht es wirklich nur um Emotionen? In Wahrheit geht es natürlich wie immer beim Privatfernsehen ums Geschäft. „Das ist sozusagen die unterste Stufe der Nahrungskette“, sagt der Medienwissenschaftler Eckhard Wendling. Denn: Wahrscheinlich ist kein Fernsehformat so billig zu produzieren wie die Pseudodokus, die das Nachmittags- und Vorabendprogramm auffüllen. Manche sagen auch „zumüllen“.

Wendling (47), der aus Zell an der Mosel stammt und als Professor an der Hochschule der Medien in Stuttgart lehrt, rechnet vor, wie günstig mit solchen und ähnlichen Programmen sendebreites Material bereitgestellt werden kann: „Wir haben da Minutenpreise von 300 bis vielleicht 1200 Euro – zum Vergleich: Ein ,Tatort‘ kostet leicht 13 500 Euro pro Minute. Für eine einstündige Folge ,Lenßen & Partner‘ brauchen Sie nur zwei bis zweieinhalb Drehtage, für die ,Schulermittler‘ nur eineinhalb bis zwei. Für eine Stunde ,Tatort‘ drehen sie dagegen schnell 17 Tage.“ Sogar Talkshows sind teurer in der Herstellung – allein wegen der Studios. Für die Pseudodokus brauchen die Sender nur ein Kamerateam und ein paar Laiendarsteller. „So billiges Fernsehen – das gibt es sonst höchstens noch beim Amateurporno“, sagt Wendling spöttisch. Und vielleicht gibt er damit auch eine Einschätzung zur Qualität dessen ab, was da so billig entsteht.

Gedreht wird nicht in Kulissen, sondern an echten Schulen oder in normalen Wohnungen – so entsteht auch der gewünschte Dokumentationscharakter ganz von allein. Und man braucht ein Drehbuch. Denn selbst das ist immer noch billiger, als wenn man beim Produzieren ewig warten und Tonnen von Material sammeln muss, bis endlich mal etwas Spannendes passiert.

Zur Einordnung des vermeintlichen Genres „Scripted Documentary“ reist Eckhard Wendling zurück an die Anfänge des Films, zu den ersten bewegten Bildern. Er berichtet von den Brüdern Lumière. Die drehten 1895 den 50-sekündigen Film „L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat“. Wendling beschreibt: „Wir sehen die Ankunft eines Zuges, die Menschen steigen aus und gehen über den Bahnsteig. Und obwohl da eine gigantische Filmkamera steht, ein Gerät, das noch keiner von ihnen vorher zu Gesicht bekommen hat, schaut keiner hinein. Sie gehen einfach weiter.“

Ist Doku immer inszeniert?

Wir lernen: Schon damals, beim vielleicht ersten Dokumentarfilm der Menschheit, wurde inszeniert. Denn die Leute, die aus dem Zug stiegen, waren natürlich über die Dreharbeiten informiert, sie spielten eine Rolle. Das führt zur Frage, ob Dokumentarfernsehen überhaupt wirklich dokumentarisch sein kann oder ob die Anwesenheit der Kamera nicht stets alles verändert.

Dennoch: Von dort zur komplett erfundenen Doku ist es noch ein weiter Weg – mit einigen Nebenpfaden. Mancher hat mit krimineller Energie zu tun, was für die Scheindokus der heutigen Zeit nicht gilt. Doch in den 80er-Jahren sorgte der gebürtige Lahnsteiner Michael Born für Aufsehen, als er anerkannten Fernsehformaten komplett erfundene Reportagen andrehte – etwa vom „Ku-Klux-Klan in der Eifel“. Auch parodistische Sonderformen fallen Wendling ein, etwa die filmischen Abenteuer von Borat, dessen Schöpfer Sacha Baron Cohen mit den Mitteln der Dokumentation spielt, um sein Gegenüber – die Amerikaner – im Film zu entlarven. Dies stieß auch Kasachstan bitter auf – Cohen gab sich als Kasache aus und damit ein (bewusst) schlechtes Bild ab.

Dennoch: Wendling findet die „Scripted“-Formate grundsätzlich nicht unbedingt verwerflich, schließlich müssen die Privatsender Quote machen, also das senden, was die Zuschauer wollen. Wendling findet vielmehr das schlimm, was in den Sendungen zu sehen ist: „Es gibt diesen Zwang zur Zuspitzung. Jeder Konflikt muss auf die Spitze getrieben werden, diese Handlungsstränge funktionieren ganz platt, nehmen jedes Vorurteil auf. Die Reizschwelle liegt beim Publikum immer höher, also müssen die Sendungen immer greller werden, um noch Wirkung zu zeigen. Manchmal ist das menschenunwürdig, was da an Abgründen gezeigt wird.“

Wendet sich das Publikum ab?

Für ihn ist die Frage, wann der Punkt erreicht ist, an dem die Zuschauer sich auch von diesen aufgeregten Formaten abwenden, weil sie satt sind, vielleicht auch müde vom nachmittäglichen Eskalationswettstreit. Die Aufregung um die „Scripted“-Sendungen ist für ihn erwartbar, sie ist vielleicht auch typisch deutsch. Vor allem, weil sich bei solchen Fernsehphänomenen stets gern das intellektuelle Bürgertum aufregt (siehe „Big Brother“, siehe „Tutti Frutti“), das aber erwiesenermaßen diese Sendungen gar nicht anschaut und auch nicht zur Zielgruppe gehört. „Es wird immer gern das Ende der Kultur erwartet. Aber dazu kommt es ja zum Glück dann doch nie.“

Von unserem Redakteur Tim Kosmetschke