RZ-REPORTAGE: Die letzte Reise

Es gibt keine Kapelle, keine Hymne. Ein Stromgenerator lärmt, im Hintergrund heult ein Triebwerk. Langsamen Schritts marschiert ein Trupp Soldaten, die Hände in weißen Handschuhen, über die Rollbahn auf einen Jumbo-Jet zu. Sechs Marineinfanteristen steigen die Gangway hinauf und verschwinden im Bauch der Boeing 747, um nach 20 Sekunden an der hinteren Tür wieder aufzutauchen. Dort wo ein weißer Sarg bereitsteht, eingehüllt in ein Sternenbanner.

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Von unserem USA-Korrespondenten Frank Herrmann

Es gibt keine Kapelle, keine Hymne. Ein Stromgenerator lärmt, im Hintergrund heult ein Triebwerk. Langsamen Schritts marschiert ein Trupp Soldaten, die Hände in weißen Handschuhen, über die Rollbahn auf einen Jumbo-Jet zu. Sechs Marineinfanteristen steigen die Gangway hinauf und verschwinden im Bauch der Boeing 747, um nach 20 Sekunden an der hinteren Tür wieder aufzutauchen. Dort wo ein weißer Sarg bereitsteht, eingehüllt in ein Sternenbanner.

Ein Kaplan spricht ein Gebet, die Soldaten senken die Köpfe. Dann tragen sie den Sarg ans Ende einer Hebebühne, die ihn zu Boden befördert. Unten wartet ein Wagen, wieder greifen behandschuhte Hände zu, schließlich rollt das „Transfermobil“ davon in die Leichenhalle. Routine auf der Dover Air Force Base, ein ganz normaler Tag Ende August.

Dreimal landen Frachtmaschinen mit toten GIs aus Afghanistan auf der Luftwaffenbasis am Atlantik. Morgens, nachmittags und abends. Die erste hat zwei Leichen an Bord, die von Pedro Millet Meletiche, 20, und Jason Calo, 23. Die zweite bringt Ronald Rodriguez, 26, die dritte Steven Deluzio, 25. „Ort des Todes: Operation Enduring Freedom“, steht jedes Mal in den begleitenden Dreizeilern des Pentagon.

Genau genommen sind es keine Särge. Es sind eisgekühlte Metallkisten, die man später zurückschickt nach Kabul oder Kandahar, um sie erneut zu verwenden. In Dover warten die Pathologen. Vor der Obduktion untersuchen sie die leblosen Körper auf eventuell noch nicht detonierten Sprengstoff, in einem Raum, dessen extradicke Wände eine mittelschwere Explosion aushalten können. Anhand von Fingerabdrücken, DNA-Proben oder Röntgenaufnahmen des Gebisses wird die Identität bestätigt. Manchmal sind die Toten so entstellt, dass sie erst zusammengeflickt werden müssen, bevor man sie zum Begräbnis im Heimatort in einen Sarg legen kann. „Mitunter dauert es Wochen“, sagt Rusty Ridley, ein Unterleutnant, der Journalisten über die Basis führt.

Steve Ruark kennt das traurige Procedere, mehr als 120 Berufstage hat der Fotograf der Agentur Associated Press (AP) bereits in Dover verbracht. Er hat gelernt, in den amtlichen Mitteilungen zwischen den Zeilen zu lesen. „Wenn sie offen lassen, wie einer ums Leben kam, kann es Selbstmord gewesen sein.“

Im April 2009, als Ruark anfing, die flaggengeschmückten Metallkisten zu fotografieren, war es noch ein mühsam erstrittener Sieg über die Geheimniskrämer. 18 Jahre hatten Presseagenturen, Verlagshäuser und Fernsehsender dafür gekämpft. Es sollte endlich fallen, das Verbot, das der alte George Bush im Golfkrieg angeordnet hatte. Bush wollte vermeiden, was 1989 nach der US-Invasion in Panama auf parallel eingespielten Kamerabildern zu sehen war: hier die Ankunft der Särge in Dover, dort der bei einer Pressekonferenz scherzende Präsident. Unter Bill Clinton und George W. Bush blieb es bei dem Bann. Erst Barack Obama ließ die Medien herein.
Heute ist es Alltag für Ruark, so makaber das klingt. Oft ist er der einzige Reporter, der auf der Rollbahn wartet. Als Obama die Tore öffnen ließ, kamen noch 35. „Inzwischen fehlt der Neuigkeitswert“, sagt der Fotograf. AP schickt ihn trotzdem von Baltimore herüber nach Dover, sobald der Stützpunkt einen „dignified transfer“ avisiert, eine „würdevolle Überführung“. Von jeder einzelnen soll es ein Foto geben, auch wenn nur die Heimatzeitung des Gefallenen es druckt. Vorausgesetzt, die Hinterbliebenen sind einverstanden. Zu zwei Dritteln stimmen sie zu.
Mal schweigen die versammelten Familien beim Anblick der weißen Kisten, mal brechen sich Schmerz und Wut lautstark Bahn – die ganze Bandbreite an Emotionen hat Ruark schon erlebt. Gesehen hat er die Angehörigen nie. Der Kleinbus mit den dunklen Scheiben, der sie aufs Rollfeld fährt, kommt so zum Stehen, dass er die rechts aussteigenden Trauernden von den links platzierten Reportern trennt wie eine Wand. Das beklemmende Ritual hat sich eingespielt. Und allein das Tempo, mit dem die Infrastruktur der „Mortuary Affairs Operations“ wächst, spiegelt die Last der Kriege in Übersee.

Die neue Leichenhalle, die größte der Welt, dreimal größer als ihre 1955 gebaute Vorgängerin, wurde im Herbst 2003 eingeweiht, im Jahr des Einmarschs im Irak. Seit Mai ist ein kleines Hotel im Bau, wo die Angehörigen für sich sein können, wenn sie übernachten. Das Geld dafür kommt von der Fisher House Foundation. Obama hat der Stiftung eine Viertelmillion Dollar vermacht, von der Prämie, die er für den Friedensnobelpreis bekam.