RZ-KOMMENTAR: Armutszeugnis für die Demokratie

Von Christian Kunst

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Ich kann mich noch genau an den Tag im Sommer 1992 erinnern, als mir ein Studienkollege in Marburg von den Ostdeutschen erzählte. Die sollten im Wintersemester in Scharen an die Uni kommen, der erste große Jahrgang nach der Wiedervereinigung. Vor allem angehende Juristen und Betriebswirtschaftler waren im Anmarsch, sagte er. In seinen Worten schwang viel Respekt, Hochachtung, fast Angst mit. Denn die neuen Kommilitonen sollten eine Menge auf dem Kasten haben, erzählte man sich. Das bewahrheitete sich. Viele der Studenten aus dem Osten waren zielstrebig, und vor allem hatten sie eine unglaublich gute Schulbildung. Wir alteingesessenen Wessis waren damals schon einigermaßen beeindruckt – hatten wir doch von unseren Politikern gehört, dass die von da drüben uns eigentlich unterlegen sein sollten. Wir waren doch die Sieger des jahrzehntelangen Wettstreits zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Pustekuchen. Die, die damals aus Stralsund oder Zwickau kamen, waren uns oft überlegen mit ihrer Ausbildung, die sie noch zu DDR-Zeiten genossen hatten.

Bereits damals schwante mir, dass nicht alles schlecht gewesen war, was sich zuvor 40 Jahre lang hinter der Mauer abgespielt hatte. Doch weite Teile der Politik fühlten sich 1990 als Sieger und waren daher nicht bereit anzuerkennen, dass es im Osten mehr Gutes gab als Ampelmännchen und grünen Pfeil. Heute ahnen viele, dass das mit der Ganztagsbetreuung der Kinder in Schulen und Kindergärten, mit der anderen Wertschätzung von Frauen im Beruf oder mit den Polikliniken im Osten doch ganz gut war. Wer diese Erkenntnisse allerdings mit der DDR in Verbindung bringt, der wird gleich als Kommunist und Ewiggestriger verurteilt – und von ihm wird das Bekenntnis abverlangt, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Ja, das war sie. Aber im anderen Teil Deutschlands gab es auch Menschen, die sich trotz Diktatur gute Gedanken über das Miteinander der Menschen gemacht haben. Es ist der große Fehler der Vereinigung, dass dieses Erbe 1990 völlig unter die Räder geriet. Letztendlich war dies aber nicht nur die Folge eines arroganten und selbstgefälligen Westens. Es war und ist auch Ausdruck einer politischen Kultur, in der Vorschläge des politisch Andersdenkenden von vornherein aus ideologischen Gründen abgelehnt werden. Für eine Demokratie ist dies ein Zeichen der Schwäche – besteht sie doch aus dem fairen Streit über gute Argumente. Dass die guten Argumente des Ostens 1990 kaum gehört wurden, ist ein Armutszeugnis für die westliche Demokratie. Es ist an der Zeit, es besser zu machen.