Berlin

Rütli: Vom Sorgenkind zur Vorzeigeschule

Auf der Bühne steht ein weiblicher Teenager und singt ein Liebeslied auf Deutsch, ein Mädchen mit Kopftuch filmt ihn dabei. Etwa 300 Schüler verfolgen aufmerksam den selbstbewussten Auftritt der Mitschülerin bei „Rütli sucht den Superstar“. Vor fünf Jahren suchte die frühere Hauptschule im Berliner Stadtteil Neukölln überhaupt nichts mehr.

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Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann

Berlin – Auf der Bühne steht ein weiblicher Teenager und singt ein Liebeslied auf Deutsch, ein Mädchen mit Kopftuch filmt ihn dabei. Etwa 300 Schüler verfolgen aufmerksam den selbstbewussten Auftritt der Mitschülerin bei „Rütli sucht den Superstar“. Vor fünf Jahren suchte die frühere Hauptschule im Berliner Stadtteil Neukölln überhaupt nichts mehr.

In einem „Brandbrief“ hatte das Lehrerkollegium die Schulverwaltung der Hauptstadt um die Auflösung ihrer Bildungseinrichtung gebeten. Ausufernde Gewalt und Respektlosigkeit der überwiegend türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen gegenüber den Erwachsenen hatten die Lehrerinnen und Lehrer keinen Ausweg mehr sehen lassen als die Kapitulation. Ihr Brief jedoch war rückblickend die Initialzündung für einen beispielgebenden Neuanfang.

An der „Klientel“, Klaus Lehnert kann dieses Wort eigentlich nicht leiden, hat sich nichts geändert. Auch heute noch gehen hier 90 Prozent Kinder und Jugendliche mit einem sogenannten Migrationshintergrund zur Schule. Viele kommen aus bildungsfernen Familien. Aber nur noch 1,4 Prozent gehen ohne Abschluss, 36 Jugendliche der im Jahr des Brandbriefs angemeldeten Schüler sind auf dem Weg zum Abitur. „Wer hätte das 2006 für möglich gehalten?“, fragt Klaus Lehnert nicht ohne Stolz. Der große weißhaarige Mann mit den buschigen Augenbrauen könnte längst im Ruhestand sein. Doch nach dem Brandbrief bat ihn der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky um Hilfe. Lehnert, der die Neuköllner Schullandschaft seit den 70er-Jahren kennt und bis 2007 ein Gymnasium in dem sozial schwachen Stadtteil leitete, sollte beratend beim Neuanfang an der Rütli-Schule helfen. Die Vision hieß: mit vereinten Kräften einen „Campus Rütli“ zu erschaffen, der für Aufbruch statt Abstellgleis steht.

Man begann mit scheinbaren Äußerlichkeiten. „Die naturwissenschaftlichen Unterrichtsräume waren auf dem Stand der 50er-Jahre“, erinnert sich Lehnert. „In den Wänden des sogenannten Gymnastikraums steckte der Schweiß der vergangenen 100 Jahre.“ Unterricht kann hier keinen Spaß gemacht haben, ist er überzeugt. Auch das Gebäude, in dem gelernt wird, kann Wertschätzung vermitteln. Aber mit Geld allein ist es nicht getan. „Hier herrschte schlicht Nachholbedarf, und der ist gedeckt worden. Das war schlichte Notwendigkeit.“ Niemand soll glauben, dass die Erfolgsgeschichte Rütli mit Millioneninvestitionen geschrieben wurde. „Das Entscheidende ist, dass sich hier ein ganzes Lehrerkollegium auf den Weg gemacht hat.“

Den Startschuss für die „innere Schulentwicklung“ markierte der Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule mit einer nahe gelegenen Grundschule und einer Realschule zur neuen „Rütli Oberschule“. Auch der schon 2007 bestehende Jugendklub gegenüber der Schule und die Kindertagesstätte nebenan setzten sich mit an den „runden Tisch“ der Bildungseinrichtungen, die bis dato jede für sich mit den gleichen Problemen im Stadtteil zu kämpfen hatten: unerreichbare Elternhäuser, Sprachprobleme der Kinder und Jugendlichen, Perspektivlosigkeit. Die Idee eines „Campus Rütli“ wurde geboren mit dem Ziel, die Kinder von der Kita bis bestenfalls zum Abitur oder zur Ausbildung nicht mehr aus den Augen zu verlieren. „Es sind viele kleine Mosaiksteine, die zum Erfolg beitragen“, weiß Projektleiter Lehnert. Einer der wichtigsten war es, die Eltern der Schüler mit ins Boot zu holen. „Denn wenn sie es nicht für wichtig erachten, dass ihr Kind in die Schule kommt und lernt, können wir das hier kaum wettmachen.“ Mithilfe der Freudenberg-Stiftung, und damit hat die Rütli-Schule doch noch einen finanziellen Vorteil gegenüber anderen Einrichtungen, können sogenannte interkulturelle Moderatoren eingesetzt werden – arabisch- oder türkischstämmige Pädagogen, die den Kontakt vor allem zu den Müttern der Schüler aufbauen. Seit es sie gibt, kommen die Mütter einmal im Monat zum Elterncafé in die Schule, helfen bei Veranstaltungen mit. „Sie beginnen, sich mit der Schule zu identifizieren.“

Klaus Lehnert schreitet bedächtig die Rütli-Straße entlang, links und rechts säumen die Bildungseinrichtungen, die nun an einem Strang ziehen, den Weg. Er spricht gern von „Gutmenschen“, wenn er von zahlreichen kleinen Spenden für die Schule erzählt, die natürlich helfen, aber nicht im Zentrum des neuen Kurses stehen. „In erster Linie machen die Pädagogen an unserer Schule den Erfolg möglich. Die Schüler merken, dass da Menschen sind, die ihnen wirklich etwas beibringen wollen.“ Er spricht viel von Wertschätzung. Für ihn ist sie das Mittel, um fast jeden noch so hoffnungslosen Schüler „aufzuschließen“. Lehnert will nicht einstimmen in den Chor der bundesweit zu hörenden Bildungspessimisten. „Ich bin Optimist von Natur aus. Und ich bin überzeugt davon, dass es viele ungenutzte Potenziale gibt. Unsere Gesellschaft kann sich das aber auf Dauer nicht leisten.“ Deshalb dürfe man nicht kapitulieren.

Inzwischen kommen regelmäßig Pädagogen aus dem ganzen Bundesgebiet, auch aus den Niederlanden, um vom „Rütli-Modell“ zu lernen. „Neukölln ist ja immer der Vorzeigeproblembezirk. Aber anderswo gibt es genau die gleichen Fragestellungen.“

Der Projektleiter will seine Beraterfunktion Ende dieses Jahres einstellen. Im Mai ist Spatenstich für die neue Turn- und Mehrzweckhalle, mit dem Erweiterungsbau an der alten Rütli-Schule wird ebenfalls bald begonnen. Dann ist das Projekt „Campus Rütli“ vollendet.

Als Schulleiterin Cordula Heckmann vor die 300 Schüler in dem inzwischen sanierten Gymnastikraum tritt, applaudieren die Schüler. Sie spricht die Eröffnungsworte zu „Rütli sucht den Superstar“. Die Jugendlichen sind stolz darauf, dass sie gekommen ist.