Roma hoffen auf ein besseres Leben

Vor acht Monaten verließen sie die rumänische Hauptstadt Bukarest in der Hoffnung auf einen Neustart in Deutschland: Olimpia (Mitte), ihr Mann Florin und Sohn Daniel haben in Berlin-Neukölln ein Zuhause und Arbeit gefunden. Insgesamt 400 Roma aus Rumänien leben in dem Häuserblock in der Harzer Straße, der jetzt von Grund auf saniert wird.
Vor acht Monaten verließen sie die rumänische Hauptstadt Bukarest in der Hoffnung auf einen Neustart in Deutschland: Olimpia (Mitte), ihr Mann Florin und Sohn Daniel haben in Berlin-Neukölln ein Zuhause und Arbeit gefunden. Insgesamt 400 Roma aus Rumänien leben in dem Häuserblock in der Harzer Straße, der jetzt von Grund auf saniert wird. Foto: Rena Lehmann

Olimpia spricht langsam in das übergroße Mikrofon, das der englische Reporter der BBC ihr dicht vor die Nase hält. Der Mann ist eigens für diese Reportage von London angereist. Denn im Berliner Stadtteil Neukölln in der Harzer Straße 65 kann man sie sehen und filmen: eine neue Armutswanderung aus Südosteuropa.

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400 Väter, Mütter und Kinder aus Rumänien leben hier in einem einzigen großen Wohnblock. Die meisten von ihnen sind Roma, in ihrer Heimat wie auch in Deutschland zählen sie zu einer ethnischen Minderheit, Diskriminierung haben viele von ihnen von kleinauf erlitten. Jetzt, mit den offenen Grenzen der EU, packen viele von ihnen ihre Sachen und kommen in die Großstädte Westeuropas. Im Gepäck: die große Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder.


Immobilienhändler Benjamin Marx glaubt an sein Projekt in Berlin-Neukölln: „Wir schaffen hier etwas ganz Besonderes.“
Immobilienhändler Benjamin Marx glaubt an sein Projekt in Berlin-Neukölln: „Wir schaffen hier etwas ganz Besonderes.“
Foto: Rena Lehmann

„Darauf hat sich niemand vorbereitet“

Nachbarn am Kiosk gegenüber beäugen den Zuzug der Roma-Familien misstrauisch. Sie fürchten die Veränderung ihres Wohnviertels.
Nachbarn am Kiosk gegenüber beäugen den Zuzug der Roma-Familien misstrauisch. Sie fürchten die Veränderung ihres Wohnviertels.
Foto: Rena Lehmann

„Das ist ein Problem, mit dem sich Europa mal auseinandersetzen muss“, sagt der Kölner Immobilienhändler Benjamin Marx. „Darauf hat sich niemand vorbereitet.“ Er spricht von den ungleichen Lebensverhältnissen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die viele Menschen zur Flucht bewegen. Der rumänische Staat würde nichts tun, um seinen armen Menschen zu helfen. Nicht einmal die Gelder, die die Europäische Union dafür bereitstellt, würden abgerufen. „Man will lieber, dass diese Leute gehen“, meint Marx.

Seit 2007 genießen bulgarische und rumänische Bürger die Freizügigkeit der EU, sie benötigen allerdings noch eine Arbeitserlaubnis. Den Zahlen des statistischen Bundesamtes zufolge stieg die Zahl der Bulgaren, die nach Deutschland zuwanderten, von 2010 bis 2011 um 25,4 Prozent, die der Rumänen um 25,8 Prozent. Die meisten von ihnen zieht es in die größeren Städte wie Berlin und Hamburg, allerdings ist der Trend auch in ländlichen Regionen zu beobachten.

Zeigen, dass es geht

In Rumänien stehen, so hat Marx es von den Familien in Neukölln erfahren, Roma-Familien in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten. Der kleine stämmige Mann mit dem rundlichen Gesicht und dem Vollbart ist kein Politiker und auch kein Migrationsforscher, sondern Immobilienhändler bei der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft, die unter anderem Gebäude für soziale Projekte im ganzen Land erwirbt. Vor gut einem Jahr jedoch wurde er zum Begründer des Wohnprojekts in Berlin, das jetzt europaweit Wellen schlägt. „Wir wollen hier zeigen, dass es geht“, sagt Marx. Dass Integration funktioniert, wenn man den Menschen eine Chance gibt. Dass Roma aus Rumänien und Deutsche aus Neukölln friedlich miteinander leben können. Dass der Traum von einem besseren Leben ein zutiefst menschlicher ist und Wirklichkeit werden kann.

Antiziganismus ist verbreitet

Es gibt Gegenwind für solche Träume. Die Schweizer Zeitung „Weltwoche“ hatte vor Kurzem eine Titelstory zum Thema Zuzug von Sinti und Roma gebracht. Unter einem Foto mit einem Roma-Jungen, der mit einem Revolver auf den Betrachter zielt, stand die Überschrift „Die Roma kommen – Raubzüge in die Schweiz“. Die rassistische Diffamierung des Volkes der Sinti und Roma wird Antiziganismus genannt. Sie ist auch in Deutschland verbreitet. Einer Allensbach-Studie zufolge lehnen es 68 Prozent der Bevölkerung ab, in der Nachbarschaft von „Zigeunern“ zu leben. Der Kölner Immobilienhändler Benjamin Marx schüttelt darüber den Kopf.

Olimpia fühlt sich wohl in Neukölln. Die fröhliche Frau Mitte 30 sagt das auch dem Reporter von BBC in etwas holprigem, aber klar verständlichem Englisch. Die englische Sprache fand sie schon immer schön. Sie hat sie sich beim Fernsehen angeeignet. Deutsch, das klingt ein wenig ähnlich, findet sie. Ihre Familie hat sich hier eingewöhnt, sagt sie begeistert. Ihr Mann Florin und sie haben Arbeit, Sohn Daniel geht zur Schule und versteht schon recht gut Deutsch. Es selbst zu sprechen, fällt ihm aber noch schwer. Seine Mutter sagt, sie hofft, ihren Kindern wird es in Deutschland besser gehen als in Rumänien.

Bisher habe es keine Probleme gegeben mit den Nachbarn. Aber sie und die anderen Familien blieben bisher meist unter sich. Als Olimpia mit ihrem Sohn und ihrem Mann vor das Haus tritt, um ein Foto zu machen, schimpft eine fremde Frau von der Bushaltestelle herüber: „So ein Pack!“ Olimpia und ihre Familie lächeln unsicher. Sie haben die Worte nicht verstanden. Doch eilig treten sie in den Innenhof zurück.

Boulevardpresse titelt: „Roma-Dorf von Neukölln“

Benjamin Marx kommt immer mittwochs nach Berlin in die Harzer Straße, um hier nach dem Rechten zu sehen. Zum ersten Mal kam er vor einem Jahr her, weil er sich für die Immobilie interessierte. Damals beschloss er, dass er für die Familien etwas tun will. Denn was er sah, schockierte ihn zutiefst. Das Haus war halb vergammelt, der Innenhof war voller Müll, zwischen Ratten und Dreck spielten Kinder. „Und das in der deutschen Hauptstadt“, sagt Marx, noch immer entrüstet. Hier hatte jemand einen Ort und seine verarmten Menschen sich selbst überlassen. Die Neuankömmlinge waren bereits aufgegeben. „Roma-Dorf von Neukölln“ hieß das Quartier in den Schlagzeilen der Boulevardmedien.

„Man hat die Menschen hier im Dreck sich selbst überlassen“, sagt auch der Pianist Christian Bahr, der schon einige Jahre in dem Haus in der Harzer Straße lebt. Er teilte es schon mit Drogenabhängigen, Arbeitslosen, Kriminellen. „Es war lange das heruntergekommenste Haus in der schlimmsten Straße von Neukölln“, erzählt er. Die Roma-Familien fanden hier günstigen Wohnraum. Es war schlimm, aber es war eben doch besser, als überhaupt kein Dach über dem Kopf zu haben. Christian Bahr konnte auch beobachten, wie das Umfeld auf die neuen Nachbarn reagierte. „Roma werden stigmatisiert“, sagt er. Es hat Aufmärsche von Rechten gegeben in der Harzer Straße. Flugblätter mit „widerlichem Inhalt“ sind in der Straße verteilt worden. Den Pianisten hat das schockiert.

Hoffnungslosigkeit ist Aufbruchstimmung gewichen

Marx sprüht unterdessen vor Enthusiasmus. „Heute spricht man vom Wunder in der Harzer Straße“, sagt er, stolz auf die Gerüste zeigend, mit den vielen Arbeitern darauf, und auf die Frauen, die emsig den neu gepflasterten Innenhof fegen. Seit Monaten wird hier gebaut, geplant, ein neues Leben gelebt. „Ich zweifle keine Sekunde daran, dass uns hier gemeinsam etwas ganz Besonderes gelingt“, sagt Marx. Die 137 Wohnungen in dem 7500 Quadratmeter großen Block sind inzwischen größtenteils saniert. Im Innenhof wachsen Bäume, eine Gruppe junger Neuköllner Künstler bemalt eine Häuserwand. Hoffnungslosigkeit ist Aufbruchstimmung gewichen.

Olimpia kümmert sich um die Betreuung der Kinder in der Harzer Straße, ihr Mann arbeitet auf der Baustelle. Der Anfang für ihr neues, besseres Leben in Deutschland ist gemacht. Sie wollen bleiben, unbedingt. In ihrem neuen Zuhause in Berlin.

Rena Lehmann