Tunesien

Revolte: Der arabischen Revolution auf der Spur

In Sidi Bouzid begann die Arabellion vor zwei Jahren. Heute ist längst Ernüchterung eingekehrt. Der Augenblick, in dem Hamza Chouakie dann doch noch etwas Positives über seine Stadt sagt, könnte trostloser nicht sein. Chouakie sitzt in seinem zerbeulten VW Jetta, der Motor läuft, soeben haben zwei Polizisten seinen Wagen nach Waffen durchsucht. Es ist später Abend und längst dunkel.

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Unser Redakteur Dietmar Telser ist für unsere Zeitung drei Monate lang auf den Spuren der arabischen Revolution. Zu Beginn seiner Reise war er in Tunesien.

Tunesien – In Sidi Bouzid begann die Arabellion vor zwei Jahren. Heute ist längst Ernüchterung eingekehrt. Der Augenblick, in dem Hamza Chouakie dann doch noch etwas Positives über seine Stadt sagt, könnte trostloser nicht sein. Chouakie sitzt in seinem zerbeulten VW Jetta, der Motor läuft, soeben haben zwei Polizisten seinen Wagen nach Waffen durchsucht. Es ist später Abend und längst dunkel. In vielen Cafés und Restaurants sind schon vor mehr als einer Stunde die Lichter ausgegangen. Kein Mensch ist jetzt auf der Straße zu sehen. „Ich mag die Stadt“, sagt Hamza Chouakie dann. „Es ist ruhig hier.“

Hamza Chouakie, 29 Jahre alt, schmales, ernstes Gesicht und dünner Bart, hat sich am Nachmittag noch ganz anders angehört. Da saß er in einem Café an der Hauptstraße mit drei Freunden, hatte sich noch gar nicht vorgestellt und schon geklagt: „Wir leiden hier in dieser Stadt, wir leiden hier enorm.“

Sidi Bouzid ist in der Tat ein Ort, der wenig Hoffnung macht. Die staubige Hauptstraße ist eigentlich auch das Stadtzentrum, gesäumt von einstöckigen Läden und Cafés, die oft nicht viel mehr als im Kreis aufgestellte weiße Kunststoffstühle sind. Rund 40 000 Menschen leben hier, jeder dritte, der arbeiten könnte, findet keinen Job. Sidi Bouzid war nie von wirtschaftlicher Bedeutung, und auf der touristischen Landkarte taugte die Stadt nicht mal als Durchfahrtsort. Der Puls der tunesischen Wirtschaft schlägt weit entfernt im 200 Kilometer entfernten Tunis und in den Tourismuszentren an der Küste. Für Sidi Bouzid hat sich lange Zeit niemand interessiert. Dann kam der 17. Dezember 2010.

An diesem Tag übergießt sich der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor der Präfektur mit Benzin und steckt sich mit einem Feuerzeug in Brand. Man sagt, dass Bouazizi in den Tagen zuvor von den örtlichen Polizisten gedemütigt worden ist, weil er keine Lizenz für seinen Verkauf mit der Gemüsekarre besaß. Es heißt auch, dass seine Waren beschlagnahmt wurden, er kurz zuvor von einer Polizistin geohrfeigt wurde und er die Demütigung, von einer Frau geschlagen worden zu sein, nicht ertragen konnte.

Hamza Chouakie ist zum Platz gelaufen, als er hörte, was geschehen ist. Er hat Bouazizi gesehen, nicht wie er in Flammen stand, sondern wie er bereits schwer verletzt in den Krankenwagen getragen wurde. Hamza Chouakie sagt, es ist viel geredet worden über diese Tage. Und man sollte nicht alles glauben. „Denn wenn die Menschen voller Zorn sind“, sagt er, „dann nehmen sie es mit der Wahrheit nicht mehr so genau.“ Dass Bouazizi wirklich von einer Polizistin geschlagen wurde, hält er nur für eine von vielen Legenden.

Schüsse auf Demonstranten

Aber im Grunde spielt es heute keine Rolle mehr, wie es sich im Detail zugetragen hat. Am folgenden Tag jedenfalls protestiert die Familie des Gemüsehändlers vor der Verwaltung, rasch sammeln sich mehr wütende Menschen, die die Gelegenheit nutzen, um für Freiheit und Brot zu demonstrieren. Die Polizei schreitet ein, und je mehr sich die Straße füllt, desto brutaler reagieren die Polizisten.

Die Stadt wird für Journalisten gesperrt, es gibt Schüsse auf Demonstranten und Tote. Aber mit jedem Schuss wächst die Menschenmenge auf der Straße. Und irgendwann schließen sich auch die Arbeiter in der Phosphathochburg Sfax und die jungen Menschen in Kasserine an, dann marschieren auch die Menschen in Tunis über den Bourguiba-Boulevard.

Am 14. Januar 2011 flüchten Herrscher Ben Ali und sein korrupter Familienclan aus dem Land. Aber damit ist die Sache noch lange nicht zu Ende. In Ägypten treffen sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, als sie von den Ereignissen in Tunesien erfahren haben, und wenig später stürmen die Menschen in Tubruk, im Osten Libyens, das Volkshaus, in dem Muammar Gaddafis grünes Buch aufbewahrt wurde, und vertreiben die Soldaten aus der Stadt. Auch im Jemen protestieren die Menschen, in Syrien und in Bahrain.

Zwei Jahre später sind nicht nur die langjährigen Herrscher Zine el Abedine Ben Ali in Tunesien, Muammar Gaddafi in Libyen und Hosni Mubarak in Ägypten Geschichte. Im Jemen musste zumindest formal Ali Abdullah Saleh seine Macht abgeben, in Syrien klammert sich Baschar el Assad noch mit letzter Gewalt an sein Amt. Die arabische Revolution war eine historische Zäsur, die kaum jemand für möglich gehalten hat. In zwei Jahren wurden die Machtverhältnisse in der arabischen Welt komplett neu geordnet. In Tunesien, Ägypten und Libyen regieren nicht mehr Autokraten mit harter Hand, jetzt ringen Islamisten, Liberale, Ex-Regimeanhänger und Salafisten um die beste Ausgangsposition im Transformationsprozess.

Und in Sidi Bouzid? Dort haben sie Bouazizi ein Denkmal gesetzt. Es ist ein Monument aus Stein, das eine Gemüsekarre zwischen umgekippten Stühlen zeigt. Die Mauern und Hauswände an dem Platz vor der Stadtverwaltung sind voller Graffiti und Inschriften. „For those who yearn to be free“, hat einer in roter Farbe unter das Monument geschrieben, „für die, die sich nach Freiheit sehnen“.

Es hat sich alles geändert und doch eigentlich nichts. Nach der Revolution wurden die Bewohner plötzlich zu gefragten Gesprächspartnern. Journalisten kamen mit ihren Kameras und wollten die Geschichten der Mutigen der Stadt hören. Und weil sie offenbar auch mit Geldscheinen wedelten, erzählten ihnen die Einwohner das, was sie hören wollten. Heute brüsten sich viele mit dem Aufstand. „Die Stadt ist inzwischen voller Helden“, sagt Hamza Chouakie.

Und die, die am lautesten reden, hat er während der Proteste nicht einmal auf der Straße gesehen. Die Verwandten des verstorbenen Bouazizi zogen in einen reichen Vorort von Tunis. Es wurde über Geldgeschenke gemunkelt, und mancher nahm es ihnen übel, dass sie die Stadt im Stich gelassen haben. „Wir haben hier eine große Solidarität während der Revolution erlebt“, sagt Chouakie, „danach kamen die Politik und die Opportunisten.“

Das Leben hat sich in Sidi Bouzid kaum verbessert. Die Arbeitslosenrate liegt weiterhin bei rund 40 Prozent. „Korruption ist nicht seltener geworden“, sagt Chouakie. Noch immer lässt sich die Bearbeitung von Anträgen auf Behörden oft nur mit Bargeld beschleunigen. Tunesien hat sich im jährlichen Korruptionsindex von Transparency International zuletzt um zwei Plätze auf Rang 75 verschlechtert, 2010 lag das Land sogar noch auf dem 59. Rang. „Das Problem ist nicht das Geld, das Ben Ali unterschlagen hat“, sagt Chouakie. „Das Problem ist, was 23 Jahre Ben Ali in unseren Köpfen gemacht haben.“ Jegliches Vertrauen in die Institutionen ist zerstört. „Wir trauen dem Staat nicht. Und der Staat traut uns nicht.“

Chouakie hat sich nie auf den Staat verlassen. Als er sich für eine Stelle als Lehrer bewerben sollte, machte er sich selbstständig. Er wollte mehr als nur eine gut bezahlte staatliche Stelle. Nun arbeitet er von seinem Heimarbeitsplatz für eine australische Firma. Bis heute glauben ihm seine Eltern nicht, dass man von zu Hause aus Geld verdienen kann. Aber genau darin sieht Chouakie die große Chance für Sidi Bouzid. „Die meisten hier hoffen auf den Staat“, sagt er, auf große Investitionsprojekte, Industrienansiedlungen, Stellen im öffentlichen Sektor. Dabei ließe sich im IT-Bereich so viel mit wenig Investitionen bewirken.

Lange Diskussion um Verfassung

Der Staat hat derzeit ohnehin andere Sorgen. Die gemäßigt islamistische Partei Ennahdha hatte die ersten Wahlen nach Ben Ali gewonnen und mit den Parteien CPR und Ettakatol eine Regierung gebildet. Sie sollen eine neue Verfassung ausarbeiten. Universitätsprofessor Mohamed Tahar Ilahi ist einer von ihnen. Er ist neu in der Politik, dunkler Anzug, weißes Hemd, ein freundliches Lächeln. Stolz steht er vor dem Denkmal von Bouazizi, wenn er spricht, wirft er sich in Politikerpose. Er wurde als unabhängiger Kandidat in die verfassungsgebende Versammlung gewählt. Dort führt er die Gruppe Freiheit und Würde an.

Seit mehr als einem Jahr tagt die Versammlung. Eigentlich sollte die Verfassung bereits im Oktober ausgearbeitet sein, doch bis heute fehlt das Ergebnis. Es gab heftige Diskussionen in der Vergangenheit, meist um die Frage, welche Rolle der Islam in der Verfassung spielen soll. Mal ging es um die Stellung der Frau in der Familie, mal um die Einführung eines islamischen Rates. Viele Tunesier kritisieren, dass dies jegliche politische Arbeit bindet und keine Entscheidungen gefällt werden.

„Wir arbeiten hart, wirklich hart“, rechtfertigt sich Ilahi. „Aber die Leute haben keine Geduld.“ Spätestens im März, glaubt er, wird auch Tunesien eine Verfassung haben. „Zeigen Sie mir doch das Land, das in knapp einem Jahr eine Verfassung ausgearbeitet hat.“ Zwei Männer hören nun zu, einer ist offenbar angetrunken, der andere redet auf den Politiker ein und greift ihm dabei in die Jackentasche. Ilahi drückt ihn mit seiner Hand weg.

„Wir haben Fehler gemacht“, sagt er. Das Thema Arbeitslosigkeit sei ignoriert worden und die Sicherheitslage noch problematisch. In den vergangenen Monaten häuften sich die Vorfälle, zudem kam es immer wieder zu Übergriffen von Salafisten im ganzen Land. Im Sommer attackierten die Extremisten eine Kunstausstellung bei Tunis, nach der Veröffentlichung des Mohamedvideos griffen sie die US-Botschaft und eine amerikanische Schule an. Hier in Sidi Bouzid haben Salafisten vor einigen Monaten das letzte Hotel gestürmt, das Alkohol ausschenkte. Ilahi ist trotzdem optimistisch. „Nicht nur Tunesien schaut auf uns, die arabische Welt, ja die ganze Welt beobachtet, ob wir diesen Übergang hinbekommen“, sagt er. „Wir müssen das schaffen.“ Dann muss Ilahi los.

Hamza Chouakie hat zuletzt oft mit dem Gedanken gespielt, in die Politik zu gehen. Er hat sich dann doch für seine Arbeit entschieden. Jetzt bereut er es. „Die Politik in diesem Land war nach der Revolution so jungfräulich“, sagt er, „es wäre eine einmalige Chance gewesen, etwas völlig Neues aufzubauen.“ Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. Viel zu viel, glaubt er. Die Revolution hat ihre Unschuld verloren.