Privatfirma in der DDR: Birnstiels Fenster zur Freiheit

Über die Vergangenheit möchte Hildegard Birnstiel eigentlich nicht reden. „Macht ihr Männer das mal. Männer erzählen sich was anderes als Frauen“, ruft sie ihrem Sohn Michael und ihrem Mann Dieter zu, die im Büro der Glaserei im Erfurter Stadtteil Hochheim mit dem Reporter zusammensitzen. Auf dem Weg zur Tür stoppt die 65-Jährige, dreht sich um und sagt: „Die Vergangenheit ist vorbei. Wir blicken in die Zukunft. Und wir sind dankbar, dass wir in die Zukunft blicken können. Denn das war alles nicht so einfach.“

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Dann lacht sie. Eigentlich ist es kein Lachen, es ist eher ein lautes Glucksen. Ein Lachen, das eine Träne verschluckt. „Du kommst aber wieder?“, fragt Sohn Michael. „Ja, wenn ihr Männer das wollt ...“

Allein mit den Männern. Im Raum sitzen Birnstiel Generation drei, Dieter, 79 Jahre, Latzhose, kariertes Hemd, Mecki-Frisur, die Haare leicht ergraut. Daneben Birnstiel Generation vier, Michael, 37 Jahre, orangefarbener Kapuzenpullover, Glatze. Fast wie damals 1990, als Michael noch die Mecki-Frisur seines Vaters hatte und ein Reporter der Rhein-Zeitung auch die Generation zwei, Artur, damals 91 Jahre, kurz nach der Wende gestorben, traf. Sein Vater Albin Birnstiel hat die Werkstatt 1905 im Erfurter Ortsteil Schmira gegründet, 1928 zog er nach Hochheim, 1934 weiter in die bis heute existierende Werkstatt.

Enteignungswellen überstanden

Die Birnstiels haben alle Enteignungswellen nach 1945 überstanden. Das Haus und die Werkstatt „Am Bache 14“ haben sie nie aus der Hand gegeben. „Wir wollten nicht sozialisiert werden“, sagt Dieter Birnstiel fast störrisch. So lapidar es klingt – es war ein harter Kampf am Anfang der 60er-Jahre für die damals 15 Glasereien in Erfurt, der Enteignung entgegenzutreten. „In der Nacht, bevor wir zwangssozialisiert werden sollten, wurde die Aktion abgeblasen“, erinnert sich Vater Birnstiel, der wenige Jahre später, 1966, den Betrieb von seinem Vater übernahm. Bereits Ende der 50er-Jahre waren nahezu alle Bauern enteignet worden. Danach sollten die Handwerker an die Reihe kommen.

Dass die SED dieses Vorhaben abblies, erklärt sich Dieter Birnstiel heute so: „Wissen Sie, die Bauern wären nicht gegangen. Die hatten doch ihr Vieh und waren hier gebunden. Aber der Handwerker hätte das Land auf jeden Fall verlassen, wenn sein Betrieb sozialisiert worden wäre. Was hätte ihn da noch hier halten sollen?“ Und dann fügt er mit einem verschmitzten Blick hinzu: „Das haben die da oben schon erkannt. Es gab ja auch ein paar Genossen, die weitergedacht haben.“

Der Druck blieb

Trotzdem blieb der Druck auf die Handwerker groß. Viele Glasereien in Erfurt, die oft wie die der Birnstiels als Familienbetriebe geführt wurden, hielten dem Druck nicht stand und traten in die Produktionsgenossenschaft ein. Sie verloren ihre ganze Freiheit, wurden zu Filialen.

Die Birnstiels verteidigten ihr Eigentum, freie Handwerker waren sie trotzdem nicht mehr. Nicht nur das Material – Holz und Glas – wurde fortan zugeteilt, auch die Aufträge. Und dies ohne Sinn und Verstand. „Ich bekam Aufträge im Norden von Erfurt, der dortige Glaser die bei uns in der Nachbarschaft“, erinnert sich Birnstiel senior. Vor allem hatte er aber mit dem Materialmangel in der DDR zu kämpfen. Die Not machte erfinderisch. Die Handwerksbetriebe tauschten die Ware – Glas gegen Holz. Oder man wirtschaftete an den Büchern vorbei, erinnert sich Dieter Birnstiel. „Beziehungen spielten eben schon damals eine wichtige Rolle.“

So war es auch im Lebensmittelladen. „Da hat sich die Verkäuferin manchmal gebückt und unterm Ladentisch etwas herausgeholt, was es offiziell gar nicht gab. Aber sie wusste, dass wir von der Glaserei kamen. Das gab es auch bei anderen Handwerkern wie Klempnern“, sagt Michael Birnstiel und ergänzt: „Es ging uns gut. Meine Mutter hat eine große Westverwandtschaft. Dadurch bekamen wir sehr viele Pakete. Die DDR-Schokolade zum Beispiel habe ich nie gegessen. Die kannte ich gar nicht. Und ich habe die Klamotten der Westverwandten aufgetragen.“

Material wurde knapp und die Vorgaben härter

Doch gut ging es den Birnstiels nur oberflächlich. Tatsächlich wurden sie jahrelang wirtschaftlich vom Staat drangsaliert. In den 80er-Jahren spitzte sich dies zu, weil das Material immer knapper wurde, die Vorgaben vom Staat aber immer größer. 25.000 Ostmark Umsatz musste der Betrieb machen, erinnert sich Dieter Birnstiel. Doch die Preise für Fenster wurden staatlich vorgegeben, waren einheitlich, ob in Dresden oder in Erfurt. Immer wieder musste sich der Firmenchef bei der Erfurter Stadtverwaltung für den zu geringen Umsatz rechtfertigen. „Sie haben dann gedroht, dass ich den Betrieb verlieren werde, wenn ich die Vorgaben nicht erfülle. Da habe ich mich ein bisschen dumm gestellt. Angst hatte ich nicht“, sagt Dieter Birnstiel.

Er hatte die Verlogenheit des immer maroderen Systems der DDR längst durchschaut. In den 80er-Jahren darf er für drei Wochen zu einer Verwandten nach Kanada reisen – sie hat extra das Aufgebot für eine Hochzeit vorgetäuscht, damit er sie besuchen konnte. Die Birnstiels kannten den Westen – besser als mancher Westdeutsche damals, meint der 79-Jährige. „Damals habe ich mit meinem Vater auf der Hobelbank gesessen, und wir haben uns die Bundestagssitzungen im Radio angehört. Wir waren politisch viel weiter entwickelt als viele im Westen. Nach der Wende waren wir in Bayern. Da wussten viele nichts von Thüringen.“

Dramatische Momente

Am 7. Oktober 1989 feiert die DDR ihren 40. Geburtstag, Dieter Birnstiel seinen 54. Irgendwann in der Nacht erfährt seine Frau, dass ihr Bruder über Ungarn in den Westen geflüchtet ist. Am 9. Oktober 1989 steht Michael Birnstiel mit seiner drei Jahre älteren Schwester Anett und seiner Mutter auf der Erfurter Domplatte – inmitten von Tausenden Demonstranten. „Wir hatten Kerzen in der Hand, und in den Seitenstraßen standen die Wasserwerfer“, erinnert sich Michael, der damals zwölf Jahre alt war. „Unsere Mutter hat uns erklärt, dass wir demonstrieren, damit sich etwas ändert und wir alle in den Westen reisen dürfen. Mein Vater war da noch nicht dabei. Er hatte Angst.“ Das ändert sich, als Dieter Birnstiel sich an dem Abend erneut in der Stadtverwaltung rechtfertigen muss, weil er Fenster angeblich nicht ausgeliefert hat. Tags darauf steht die gesamte Familie auf der Domplatte. „Wenn 30.000 Menschen mit der Kerze in der Hand eng beieinander stehen und ,Wir sind das Volk' rufen, dann geht ihnen das eiskalt den Rücken rauf und runter.“ Auch am 9. November 1989 demonstriert die Familie in der Innenstadt. „Und am nächsten Tag ist meine Frau in den Westen gefahren. Sie hatte ein Visum bekommen“, sagt Dieter Birnstiel und schmunzelt.

Höchste Zeit, dass seine Frau in die Männerrunde zurückkehrt. Sohn Michael greift zum Hörer, ruft in der benachbarten Wohnung an. Wenig später steht Mutter Birnstiel wieder in der Tür. Sie bleibt lange stehen. Aus ihrem Mund fliegen die Worte im feinsten Thüringer Dialekt. Zu einer Taufe in den Schwarzwald ist sie am 10. November 1989 gefahren, um 7.30 Uhr fuhr der Zug, da mussten zwei Mitreisende wieder raus, weil sie in den Westen wollten, die Grenzen aber offiziell erst ab 8 Uhr offen waren. „Eine Frechheit. Das war so typisch“, schimpft die 65-Jährige. Selbst am höchsten Tag der Freiheit bleibt die DDR-Bürokratie sich treu. Am Abend vorher, auf der Domplatte, „da begann irgendwann das Volksgemurmel. Als wir hörten, dass die Grenzen offen sind, da sind wir zu unserem Trabi gerannt und nach Hause gefahren. Da haben wir eine Flasche Wein aus dem Keller geholt und angestoßen. Wir haben doch schon lange gewusst, wie kaputt dieses Land ist. Wir haben uns eher gewundert, wie lange die überleben.“ Angst hatte sie, als sie mit ihren beiden Kindern demonstrieren ging, sagt sie. „Aber das mussten sie miterleben. Da gab es nichts zu überlegen. Wir hatten diesen Staat so satt. Wir wollten die Freiheit haben.“ Ob sie jemals wie ihr Bruder über eine Flucht nachgedacht hat? „Alles, was wir uns aufgebaut haben, sollten wir den Kommunisten überlassen? In einer Turnhalle im Westen übernachten? Nä. Und ich durfte doch reisen, weil ich meinen Mann und meine Kinder als Geiseln hiergelassen habe.“

Schlechte Zahlungsmoral

Und dann? Nach dem Mauerfall? „Dann kam die erste Pleite. Das erste Haus, die ersten Fenster, und wir bekommen kein Geld dafür“, erinnert sich Hildegard Birnstiel. Die Zahlungsmoral in den Wendemonaten, sagt ihr Mann, war schlecht, miserabel. Rund 120 000 D-Mark habe er damals in kurzer Zeit an Betrüger verloren. „Doch das hat sich später stark verändert.“ Langsam tastet sich der Glasermeister 1989/90 in die kapitalistische Welt hinein. „Plötzlich mussten wir Angebote machen. Wir kannten ja nur Einheitspreise.“

Im Frühjahr 1990 bekommt er Besuch von der Innung Mainz-Bingen-Alzey – Mainz ist bis heute Partnerstadt von Erfurt. „Als der Innungsmeister unsere Werkstatt sah, sagte er: ,Museum', und als er in unser großes Glaslager schaute, meinte er erstaunt: ,Ihr seid ja Millionäre.' Wir hatten ja wegen der Materialnot so viel gehortet.“ Doch als Dieter Birnstiel für eine Woche mit einem jungen Meister in Mainz auf Montage geht, merkt er, dass er zwar das Handwerk beherrscht, dass es aber für die Firma schwer werden wird, ihren Platz in der Fensterindustrie zu finden.

Er fährt zu einer Messe in Nürnberg, knüpft Kontakt zu einer Kunststofffenster-Firma. Fortan setzen die Erfurter nur noch zugelieferte Fenster ein. Der Bedarf in den maroden Städten des Ostens ist groß. Die Birnstiels können Geld zurücklegen. Doch erst 1995 haben sie genug Maschinen gekauft, um wieder eigene Fenster herstellen zu können. Heute kauft Firmenchef Michael Birnstiel 65 Prozent der Fenster zu, der Rest entsteht in der eigenen Werkstatt. „Die Industrie hat uns längst überholt.“

Vermissen sie etwas aus der DDR, die Birnstiels? „Eigentlich nicht“, sagt der Senior und überlegt. „Vielleicht die Ruhe. Heute ist es hektischer. Und früher genügte ein Handschlag. Wenn du heute jemandem nur die Hand gibst, dann betrügt er dich.“

Seine Frau will das mit der Ruhe nicht so stehen lassen. „Mein Mann konnte nie Urlaub mit uns machen. Er hat nur gearbeitet. Ich habe ihm oft gesagt: ,Du kannst auch noch nachts arbeiten. Das, was die von dir verlangen, das schaffst du nicht.' Es war nicht zu schaffen.“ Dann weint sie. Aber man merkt es nicht, weil sie die Tränen weglacht.

Christian Kunst