Politisches Kalkül? Obama öffnet Einwanderern Tür ins Leben

Astrid Silva war vier, als ihre Eltern über die Grenze aus Mexiko kamen, um in den USA ihr Glück zu versuchen. An ihrem ersten Schultag sprach sie kaum ein Wort Englisch, sie holte auf, indem sie Zeitung las und den Nachrichtensprechern im Fernsehen an den Lippen hing.

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Heute studiert sie an einem College, während ihr Vater César, ein Gärtner, Anwälte einschalten muss, um sich zu wehren gegen einen Amtsbescheid, der seit 2011 seine Abschiebung verfügt. Astrids Bruder, in Las Vegas geboren, hat als US-Staatsbürger nichts zu befürchten, während sie selbst schweren Herzens darauf verzichtete, zur Beisetzung ihrer Großmutter nach Mexiko zu fahren. Bei der Passkontrolle wäre sie aufgeflogen, ihre Rückkehr allenfalls mithilfe von Schlepperbanden möglich gewesen.

Der Fall ist typisch, weshalb Barack Obama Astrid Silva zu einer Art Kronzeugin macht – und ihre Familie zum Paradebeispiel dafür, welch bizarre Blüten das Einwanderungsrecht treibt, wenn man es nicht entstaubt. Am Freitag flog der Präsident nach Las Vegas, um sich im hispanischen Ambiente der Del Sol High School feiern zu lassen für Korrekturen, die er am Abend zuvor im Weißen Haus skizziert hatte. Da stand, auf rotem Teppich im feierlichen East Room, ein Barack Obama, wie ihn seine dezimierte Anhängerschar schon lange nicht mehr erlebt hat. Ein Kämpfer, der Klartext sprach, statt sich, wie so oft zuletzt, zwischen alle Stühle zu setzen.

„Sind wir eine Nation, welche die Scheinheiligkeit eines Systems toleriert, bei dem die Arbeiter, die unser Obst pflücken und unsere Betten machen, nie eine Chance erhalten, sich mit dem Recht auszusöhnen?“ „Sind wir eine Nation, die es akzeptiert, dass Kinder den Armen ihrer Eltern entrissen werden?“ Mit solchen Sätzen bringt es der Präsident auf den Punkt, das Dilemma des endlosen Schwebezustands. Im Durchschnitt leben die rund elf Millionen illegalen Immigranten, die meisten aus Mexiko, El Salvador, Honduras und Guatemala, bereits seit 13 Jahren in den USA.

Viele haben Familien gegründet. Als billige Dachdecker und Klempner, Putzfrauen und Kindermädchen sind sie kaum wegzudenken aus dem Alltag der Mittelschicht. Sie alle zu deportieren, sagt Obama, sei weder realistisch, noch entspreche es dem Charakter Amerikas. Jeder hier sei einmal ein Fremder gewesen, ganz gleich, ob seine Vorfahren über den Atlantik, den Pazifik oder den Rio Grande kamen.

Es ist die emotionale Begleitmusik zu einem Verwaltungsakt, der schätzungsweise vier Millionen Migranten aus der Grauzone holt. Per Dekret verfügt das Weiße Haus einen Abschiebestopp für Eltern von Kindern, die entweder US-Staatsbürger sind oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzen – vorausgesetzt, die Eltern sind seit mindestens fünf Jahren im Land. Sie sollen aus dem Schatten treten, sich registrieren lassen, Steuern zahlen. Und sofern sie eine polizeiliche Überprüfung bestehen, dürfen sie bleiben.

Obama spricht von einem Handel, er betont das Provisorische der Regelung. Weder ebnet sie den Weg zur Staatsbürgerschaft, noch begründet sie einen Daueraufenthalt. Es geht darum, Härtefälle zu vermeiden. Dass der Schritt rechtens ist, dass der Präsident im Rahmen seiner Vollmachten handelt, lässt sich das Oval Office per Brief gleich von zehn hochkarätigen Verfassungsrechtlern bestätigen.

Damit versucht es, der Polemik der Republikaner die Spitze zu nehmen. Dem Vorwurf, Obama benehme sich wie ein Monarch des 18. Jahrhunderts, indem er sich einfach übers Parlament hinwegsetze, und das nach einem Kongressvotum, das seine Partei krachend verlor. „Kaiser Obama, Imperator der Vereinigten Staaten“, stichelt John Boehner, der Sprecher des Repräsentantenhauses.

Worauf der Adressat erwidert, die Konservativen hätten wahrlich genug Zeit gehabt, um die überfällige Einwanderungsreform zu verabschieden. Tatsächlich liegt eine Novelle, die weit über das hinausgeht, was er jetzt im Alleingang anpackt, seit 17 Monaten in den Schubladen des Senats. Die kleinere Kammer hatte sie passieren lassen, auch mit den Stimmen konservativer Strategen, die schon deshalb auf die Latinos zugehen wollen, weil keine andere Wählergruppe schneller wächst. Dann stellte das Repräsentantenhaus, getrieben von Tea-Party-Hardlinern, den Reformern ein Stoppschild in den Weg.

Bei aller Emotionalität der Debatte, es ist kühles Kalkül, wahltaktisches Kalkül, das Obamas Weichenstellung bestimmt. Wird 2016 sein Nachfolger gewählt, bilden die Hispanics erneut das Zünglein an der Waage, so wie schon 2012, als sie zu 71 Prozent für Obama gestimmt und in hart umkämpften Bundesstaaten wie Colorado, Florida, Nevada und Virginia das Duell gegen Mitt Romney zu seinen Gunsten entschieden. In zwei Jahren hoffen die Demokraten auf eine Wiederholung.