Berlin

Ohne Mikrochip kein Auto: Industrie sorgt sich wegen globaler Lieferengpässe

Von Jan Petermann
Sei es im Computer, im Auto oder in medizinischen Gerätschaften: Kaum eine Maschine läuft heute noch ohne Mikrochips, die Nachfrage weltweit ist gigantisch. Dem gegenüber steht ein Lieferengpass für Chips, der perspektivisch wohl nicht so schnell aufgehoben werden kann.  Foto: dpa
Sei es im Computer, im Auto oder in medizinischen Gerätschaften: Kaum eine Maschine läuft heute noch ohne Mikrochips, die Nachfrage weltweit ist gigantisch. Dem gegenüber steht ein Lieferengpass für Chips, der perspektivisch wohl nicht so schnell aufgehoben werden kann. Foto: dpa

Mikrochips sind allgegenwärtig – nicht nur in Computern. Kein Auto, keine Maschine kommt mehr ohne Elektronikbauteile aus. Doch in manchen Branchen könnten Halbleiter noch länger knapp bleiben als zunächst befürchtet. Schaukeln sich die Engpässe zu einer Industriekrise auf?

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Seit mehr als einem halben Jahr bringt der Chipmangel die verwundbare Autoindustrie weltweit aus dem Takt – und entgegen früheren Erwartungen dürfte die Lieferkrise in anderen Branchen auch nicht so bald abflauen. Anbieter waren auf IT oder Unterhaltungselektronik umgeschwenkt, nachdem die Autobauer wegen des Corona-Einbruchs große Halbleitermengen quasi wieder abbestellt hatten. Das rächte sich. Aber die Produktionskapazitäten werden auch insgesamt knapp – ausgerechnet bei der überall verbauten Mikrotechnik.

Fast nichts läuft in unserem vernetzten Alltag mehr ohne die Elektronikgrundbausteine. Ihre Funktion basiert auf den Eigenschaften vor allem der Elemente Silizium und Germanium. Diese lassen, anders als starke Leiter, die punktgenaue Steuerung schwacher Stromflüsse zu – ein Grundprinzip für integrierte Schaltungen, das Herzstück aller elektronischen Systeme. Schon die Verarbeitung („Dotieren“) der Halbleiter in Reinräumen und der Bau einfacher Module sind komplex, wenige Unternehmen können das leisten. „Der Bedarf wird weiter stark steigen“, schätzt der Chef des deutschen Elektronikbranchenverbands ZVEI, Wolfgang Weber. Es gebe überall Knappheiten. „Auch die Autoindustrie hat verstanden, dass sie fehlende Teile nicht einfach herbeizaubern kann.“

Moderne Autos kommen nicht ohne Mikrochips aus: Nach dem allgemeinen Siegeszug des Computers und Smartphones gelten die Anwendungen im Auto als das Zukunftsgeschäft der Halbleiterproduzenten. Bereits vor dem Anziehen der E-Mobilität und Vernetzung waren Motorsteuergeräte, Bordrechner und Assistenzfunktionen ohne Elektronik undenkbar. Gleiches trifft auf Speicher und Sensoren zu, die laut Ulrich Schäfer, einem Experten für Halbleiter, „ein deutlich überdurchschnittliches Wachstum haben werden“. Weber ergänzt: „Das autonome Fahren und Infotainment im Auto werden den Bedarf an speziellen Chips noch erhöhen. Das gilt auch für die Sensorik“ – etwa in der Verkehrsinfrastruktur mit Signalgebern an Straßen oder Gebäuden. Halbleiterkomponenten wie Dioden finden sich zudem in der immer öfter genutzten LED-Beleuchtung, innen wie außen.

Die Lage bei den Fahrzeugherstellern: Schichtausfälle und Kurzarbeit wegen fehlender Lieferungen gab es seit dem Winter mehrfach, zuletzt häuften sich die Einbußen an den Linien wieder. Der Branchenverband VDA warnt: „Die Versorgung mit Halbleitern wird auch im zweiten Halbjahr angespannt bleiben. Global wird intensiv daran gearbeitet, die Versorgung – insbesondere auf der Ebene der Chiphersteller – sicherzustellen.“ Die Beratungsfirma Alix glaubt, dass wegen der Engpässe 2021 weltweit bis zu 3,9 Millionen Fahrzeuge weniger gebaut werden könnten.

Was helfen könnte: Die Elektronikindustrie rät den Kunden, voreilige Stornierungen künftig zu überdenken. „Ein guter Beitrag wird vermutlich sein, im Rahmen des rechtlich Möglichen längerfristige Abnahmeverträge mit Lieferanten zu schließen“, sagt Weber. Schäfer teilt diese Sicht: „So war es in der Vergangenheit, und da müssen wir wieder hinkommen nach den Panikreaktionen des extremen Einbruchs.“

Wo es im Einzelnen stockt: Der VW-Konzern sprach Ende Juni von einer weiterhin „extrem volatilen“ Situation. Im Laufe des ersten Quartals hatten die Wolfsburger schon 100.000 eingeplante Wagen nicht fertigen können. Wie die zweite Jahreshälfte werde, sei nicht klar zu sagen. Eine „Taskforce“ betreut das Thema Halbleiter aber rund um die Uhr. In Wolfsburg, Emden und bei Skoda kam es zu weiterer Kurzarbeit. Die Tochter Audi fuhr die Produktion nach Arbeitsausfällen für 10.000 Beschäftigte im Mai zuletzt wieder hoch. Porsche nimmt an, dass die Versorgung an sich angespannt bleibt. „Wir erwarten aber im zweiten Halbjahr eine Verbesserung.“ BMW musste die Fertigung auch im größten europäischen Werk Dingolfing einschränken. Der Vorstand sah schon im Mai mehr Schwankungen in der zweiten Jahreshälfte – Chef Oliver Zipse erwartet, dass sich die Krise bis zu zwei Jahre hinziehen könnte.

Mercedes-Benz erklärte: „Wir fahren weiter auf Sicht. Die Situation ist volatil.“ Auch hier gab es Kurzarbeit. Beim Opel-Mutterkonzern Stellantis ließ die Chipkrise im ersten Jahresviertel eine Produktion von 190.000 Fahrzeugen ins Wasser fallen – 11 Prozent des geplanten Volumens. In den Kölner Ford-Werken mussten die Bänder wegen des Halbleitermangels bereits über Wochen angehalten werden.

Auch andere Branchen brauchen Nachschub: Bei Herstellern von Laptops, Tablets und TV-Geräten brummt das Geschäft, nicht zuletzt wegen des Trends zum Homeoffice in der Corona-Krise. Ähnliches gilt für Spielekonsolen und Hi-Fi, Medizin-Hightech wie Beatmungsgeräte oder Kernspintomografen und das IT-Kernsegment, wie der ZVEI berichtet. Bleibt die Frage, wo all die Chips herkommen sollen, wenn der Bedarf so hoch bleiben oder gar zulegen sollte. „Der Wettbewerb der Anwendungen ist massiv gestiegen“, erklärt Schäfer. Aber die Halbleiterfertigung lasse sich nicht übers Knie brechen: „Da haben Sie eine mittlere Durchlaufzeit von einem Vierteljahr.“ Parallel steigt die Nachfrage in aller Welt: Statistisch kommen 41 integrierte Schaltkreise auf einen Erdbewohner.

Forderungen nach mehr Produktion in Europa: Abnehmer für Halbleiter gibt es auch noch anderswo – bei erneuerbaren Energien, in der Fabrikautomation, der Robotik und bei allen Infrastrukturen, die von Wechsel- auf Gleichstrom umgestellt werden und „Leistungshalbleiter“ benötigen. Politiker appellieren da gern auch an deutsche Hersteller wie Infineon, Carl Zeiss SMT oder Siltronic/Wacker, mehr zu investieren. Aber für entsprechende Fabriken sind nicht selten Milliardenbeträge nötig. Bosch eröffnete gerade ein neues Werk in Dresden – die größte Einzelinvestition der Firmengeschichte. Die Branche glaubt, dass Förderprogramme entscheidend helfen können.

Wie es um die Rohstoffe steht: Viele strategisch wichtige Ressourcen unterliegen hohen Lieferrisiken. Für Silizium gilt das eigentlich nicht, es ist etwa in Sand enthalten und ein sehr häufiges Element. Aber die Veredelung zu Reinstsilizium, das für Chipteile infrage kommt, kann schwanken. So ließ China seine Kapazitäten laut der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe künstlich unterausgelastet – wohl um „exzessive Lagerhaltung“ zu betreiben. Immerhin: Der für Bauzwecke knapp werdende Sand und Kies konkurriert nicht mit dem Chipmaterial.

Jan Petermann