Notfallmediziner berichten: Die Lebensretter aus der Berliner Terrornacht
Politikredakteur Christian Kunst hat mit Ärzten über die Terrornacht von Berlin gesprochen und darüber, wie der Terror die Notfallmedizin verändert hat.
Denn Poloczek kommt gerade von einem Treffen des Traumanetzwerks Berlin-Brandenburg – einer Runde von unfallchirurgischen Chefärzten und des Rettungsdienstes. „Wir haben über die Versorgung von Terroropfern gesprochen und über Konzepte bei solchen Einsätzen.“ Das Netzwerk, an dem auch Vertreter von Kliniken, Polizei, Gerichtsmedizin und psychosozialer Notfallversorgung beteiligt sind, hat sich kurz nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 gegründet. „Paris hat in der deutschen und europäischen Notfallmedizin sehr viel bewegt, weil die Anschläge eine einzigartig neue Dimension hatten. Sie fanden an verschiedenen Stellen statt. Und insbesondere die Situation im Bataclan war verheerend. Es gab eine Geiselnahme, Handgranaten wurden in die Menge geworfen, Schnellfeuergewehre wurden benutzt. Nur Ärzte und Sanitäter bei der Bundeswehr hatten Erfahrung mit solchen Waffen. Das sind Kriegsszenarien.“
Paris stellte die professionellen Lebensretter vor zwei große Probleme: „Wir bekamen es mit Verletzungen zu tun, die wir nicht kennen. Die Projektile der Waffen hinterlassen an der Oberfläche oft nur ein kleines Loch, doch sie richten großflächige Verletzungen im Gewebe an, besonders im Bauchraum, wo Organe zerstört werden. Da spielt Zeit eine große Rolle, auch weil es bei Schussverletzungen und Explosionen sehr schnell zu starken Blutungen kommt.“ Deshalb sind seit Paris Polizei- und Rettungskräfte in Frankreich und in Deutschland, auch in Rheinland-Pfalz, mit Tourniquets ausgerüstet – kleinen, industriell vorgefertigten Knebeln, mit denen stark blutende Stellen abgebunden werden können. „In Paris gab es keine ausreichende Ausrüstung zur Blutstillung. Das war ein Riesenthema. Die Rettungsteams kamen ohne ihre Gürtel zurück. Die haben sie zum Abbinden benutzt.“
Das zweite Problem war der Selbstschutz der Rettungskräfte. „Besonders im Bataclan wussten sie nicht, wo es sicher war und wo nicht. Seitdem gibt es eine Gefahrenzone, in die der Rettungsdienst nicht hineingeht und die der Polizeieinsatzleiter definiert. Dort dürfen nur die Spezialeinheiten der Polizei arbeiten. Diese haben wir in der schnellen Blutstillung geschult. Das ist kein Hexenwerk.“
In Europa spekulierte man: Welche Stadt ist das nächste Terrorziel?
Und so ist Terror für den Notfallmediziner Poloczek am Abend des 19. Dezember 2016 kein unbekanntes Szenario. Im Gegenteil: Nach dem Anschlag von Paris habe man bei Treffen mit Kollegen aus anderen europäischen Hauptstädten spekuliert, welche Metropole als nächste ins Visier der Terroristen gerät.
Um 20.04 Uhr stoppt der Alarmmelder Poloczeks Radfahrt zu einem Abendessen. „Verkehrsunfall am Breitscheidplatz. Lastwagen in Weihnachtsmarkt gefahren“, lautet die Erstmeldung. „Ich persönlich habe bei dieser Meldung gleich vermutet, dass es Terror ist.“ Um 20.07 Uhr verdichten sich die Hinweise. Die Meldung lautet jetzt: „Massenanfall von Verletzten“, kurz MANV. Um 20.09 Uhr stuft die Feuerwehr das Geschehen als „Gefahrenlage Polizei“ ein. Da sitzt Poloczek schon in seinem Auto und fährt zur Leitstelle. Als er kurz nach 20.30 Uhr ankommt, sind die ersten Rettungswagen schon am Breitscheidplatz gewesen.
„In der Leitstelle hatten wir vor allem die Szenarien aus Paris im Kopf. Als Erstes haben wir uns gefragt: Was kann noch passieren? Schließlich gibt es viele Märkte in Berlin. Wir haben dann viele zusätzliche Rettungsfahrzeuge in Dienst genommen, um Reserven zu bilden.“ Um 20.40 Uhr gehen die ersten elektronischen Faxe an die damals 39 Kliniken heraus, wodurch dort Alarm ausgelöst wird. Doch viele Kliniken waren längst im Bilde. „Wir waren mit unserer Alarmierung viel langsamer als die sozialen Medien.“
Wie bei Dr. Willi Schmidbauer, Leitender Notarzt am Bundeswehrkrankenhaus in der Berliner Scharnhorststraße, sechs Kilometer entfernt vom Breitscheidplatz. Als dort Anis Amri den Sattelschlepper in die Menschenmenge steuert, sitzt Schmidbauer zu Hause und schaut die „Tagesschau“. Dort ist der Anschlag noch kein Thema. Dann klingelt Schmidbauers Handy. Ein Kollege fragt ihn: „Hast du das gesehen?“ Auf n-tv sieht Schmidbauer die ersten Bilder vom Breitscheidplatz. Er fährt in die Klinik. Um 20.30 Uhr, zehn Minuten, bevor das Krisenfax der Leitstelle eintrudelt, alarmiert Schmidbauer die Kollegen per SMS: „Achtung! KEINE ÜBUNG! ECHTER KATASTROPHENFALL!!! Bitte alle angeschriebenen und zur Verfügung stehenden Kollegen so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen.“
Wie sein Kollege Poloczek ist auch Schmidbauer, der heute als Anästhesist am Koblenzer Bundeswehrzentralkrankenhaus arbeitet, für einen Terroranschlag gewappnet. Nach Berlin kommt er im September 2001, als in New York islamistische Terroristen Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers steuern und Tausende Menschen töten. „9/11 war ein großer Wendepunkt. Deutschland wurde aus einem Dornröschenschlaf geweckt. Uns wurde klar, wie nah ein solches Szenario auch für uns ist.“ Im Vorfeld der Fußball-WM 2006 in Deutschland kommt das Thema wieder auf die Tagesordnung. „Damals haben wir vor allem das Szenario eines Terroranschlags mit einer schmutzigen Bombe, also mit biologischen oder chemischen Waffen, durchgespielt.“
Als Schmidbauer am Abend des 19. Dezember 2016 im Krankenhaus ankommt, weiß er: „Wir haben viele Übungen gemacht, Konzepte erarbeitet. Jetzt kommt die Bewährungsprobe. Mir war klar: Der erste Notarzt darf nicht behandeln. Er muss koordinieren und entscheiden, wer als Erstes behandelt wird. Und ich war der erste Notarzt. Das ist eine schwere Bürde, die die Katastrophenmedizin mit sich bringt. Denn sie konzentriert sich zunächst vor allem auf alle, denen der Tod droht. Das ist die klassische Triage, die Einteilung von Verletzten nach ihrem Schweregrad, die noch auf Napoleon zurückgeht.“
An diesem Abend nimmt ihm der Leitende Notarzt am Breitscheidplatz diese Bürde. Denn anders als in Paris gibt es nicht Hunderte Verletzte, sondern „nur“ 55. Poloczek verteilt sie auf 20 der 39 Kliniken. So muss sich nur eine Klinik um sechs Verletzte kümmern, einige sogar nur um einen. Im Bundeswehrkrankenhaus sind es vier, davon drei Schwerverletzte. „Der erste, leicht Verletzte kam mit dem Taxi“, sagt Schmidbauer. Über die schweren Verletzungen will er nicht reden. Schmidbauer sagt nur: „Sie waren in Lebensgefahr und mussten sofort operiert werden.“
„Rein medizinisch gesehen war es wie ein schwerer Verkehrsunfall“
Im Rückblick sagt Poloczek: „Der Breitscheidplatz-Anschlag war rein medizinisch gesehen wie ein schwerer Verkehrsunfall, bei dem zwölf Menschen starben und 50 bis 60 verletzt wurden. Das ist nicht außergewöhnlich. Paris hatte da eine ganz andere Dimension.“ Doch dies war lange unklar. „Das Besondere an diesem Terrorakt war“, sagt Schmidbauer, „dass der Täter nicht gleich gefasst werden konnte. Deshalb bestand immer die Gefahr, dass noch etwas passiert. Seit Paris und Brüssel wussten wir, dass mehrere Anschlagsorte zur Strategie der Terroristen gehören. Und sie suchen sich gern weiche Ziele wie ein Krankenhaus. Deshalb ging es auch darum, wie wir uns selbst schützen. Die Polizei konnte das nicht sicherstellen. Wir hatten dann ein Übereinkommen mit den Feldjägern, dass sie uns im Zweifelsfall absichern. Erst um 22.30 Uhr war die Situation für uns geklärt. Da haben wir die ersten Kollegen wieder nach Hause geschickt.“
Laut Poloczek hätten die 39 Berliner Kliniken 2000 Verletzte versorgen können – etwa so viele wie 2004 bei den Zuganschlägen von Madrid, wo es 2051 Verletzte gab. „Daran haben wir uns orientiert. Und: 10 Prozent der 2000 Krankenhausbetten müssen die Berliner Kliniken schon seit den 80er-Jahren für solche Katastrophen bereithalten. Das Bundeswehrkrankenhaus mit 350 Betten hätte also bis zu 35 Patienten aufnehmen müssen. In Rheinland-Pfalz gibt es diese 10-Prozent-Regelung laut Mainzer Gesundheitsministerium nicht, „da es auf die individuelle Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser ankommt“. Dennoch stünden bei einem MANV fast genauso viele Betten wie in Berlin zur Verfügung: für 1933 Patienten, die je nach Schweregrad der Verletzungen auf 78 der insgesamt 90 Kliniken verteilt werden.
Poloczek und Schmidbauer werden die Terrornacht von Berlin nie vergessen. „Der 19.12. war unser 9/11“, sagt Poloczek. Schmidbauer, der bei Auslandseinsätzen im Kongo und in Afghanistan schon viel erlebt hat, sagt: „Das war wie in Afghanistan. Das heißt aber nicht, dass wir afghanische Verhältnisse haben. Als Mediziner muss man das Umfeld ausblenden. Es ist völlig egal, ob eine Bombe durch Terroristen gezündet wird oder ob bei BASF eine Fabrik in die Luft fliegt. Die Verletzungen sind die gleichen. Wir dürfen nicht bewerten, wir müssen helfen.“
Dennoch: Viele ihrer Kollegen haben sich nach dem Einsatz psychologische Hilfe gesucht. „Das Wahrnehmen von Gerüchen, Anblicken, Geräuschen, dem Schreien, Klagen, Jammern und Weinen macht etwas mit den Rettungskräften“, sagt Poloczek. Das gilt auch für die Opfer und ihre Angehörigen. „Um sie und um die Ersthelfer haben wir uns zu wenig gekümmert. Deshalb gibt es jetzt eine Anlaufstelle, die sich um die psychologische Betreuung und auch um die finanzielle Unterstützung für Betroffene kümmert.“ Poloczek ist froh, dass er an diesem Abend in der Leitstelle saß. „Als der Einsatzleiter gegen 2 oder 3 Uhr in der Nacht in die Leitstelle kam und die Verletztenkarten mitbrachte, sah ich bei einigen Zetteln, dass diese blutverschmiert waren. Da wurde mir erst richtig bewusst, was am Breitscheidplatz passiert war.“