Berlin

Neue Corona-Maßnahmen: Warum die Bundesländer diesmal deutlich geeinter auftreten

Von Kerstin Münstermann, dpa

Der Tag geht nicht gut los für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Während sie am Morgen mit ihrem Kabinett im großen Saal des Kanzleramts berät, rammt ein Auto das Tor des Bundeskanzleramts. Es bleibt beim kurzen Schreck. Nach zahlreichen Vorgesprächen beginnt dann um 14 Uhr die Videokonferenz der Kanzlerin mit den Regierungschefs der Bundesländer. Der amtierende Vorsitzende, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, und sein Stellvertreter – Bayerns Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender Markus Söder – sind am Ort, alle anderen per Video zugeschaltet.

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Zwei Regierungschefinnen, 14 Regierungschefs – und mindestens 16 verschiedene Interessen. Doch diesmal waren der Sitzung lange Vorbereitungen vorausgegangen. Bereits vor der eigentlichen Konferenz hatten die Ministerpräsidenten miteinander ohne Merkel gesprochen, am Montagabend vier Stunden lang konferiert. Denn diesmal sind sie es, die ihre Hausaufgaben vorher machen mussten. Sie bringen ein abgestimmtes Konzept mit in die Sitzung. Es ist das erste Mal, dass nicht Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) eine Vorlage erstellt hat, sondern auf die Beschlüsse reagieren muss.

Tatsächlich gibt es relativ bald erste Ergebnisse: Um die Überfüllung von Geschäften in der Weihnachtszeit zu vermeiden und das Ansteckungsrisiko zu verringern, soll die erlaubte Zahl von Kunden pro Laden ab dem 1. Dezember nach exakten Regeln beschränkt werden. Bei größeren Geschäften soll sich ab 801 Quadratmetern nur noch eine Person auf 20 Quadratmetern aufhalten dürfen. Der Bund hatte in den Vorgesprächen eine generelle Begrenzung auf eine Person je 25 Quadratmeter vorgeschlagen, die Länder wollten das lediglich auf Hotspots begrenzen.

Kanzlerin reagierte entnervt

Bei der Besprechung vor zehn Tagen hatte die Kanzlerin entnervt auf die zahlreiche Kritik der Länderchefs an ihrem damaligen Konzept reagiert: „Dann sollen die doch Vorschläge machen“, soll sie nach Stunden zähen Ringens gesagt haben. Zu Beginn der Sitzung, in der man jetzt eine Festtagsstrategie festzurren will, ergreift der bayerische Ministerpräsident das Wort. Söder hatte sich schon zuvor nicht völlig zufrieden mit den bereits vereinbarten Ländermaßnahmen gezeigt. Er will eine Strategie für Corona-Hotspots und den Skiurlaub in diesem Jahr ausfallen lassen. Auch will er strenge Kontaktbeschränkungen über Silvester – anders als die meisten seiner Länderkollegen. „Denn Weihnachten ist das Fest der Familie, Silvester natürlich mehr das Fest der Freunde“, erklärt er kurz vor der Sitzung. Ihm sei lieber, dass man über den Jahreswechsel konsequenter sei als über Weihnachten.

Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, greift er in der Videoschalte dann zu einem drastischen Bild, so berichten Teilnehmer. Die täglichen Todeszahlen seien vergleichbar mit einem täglichen Flugzeugabsturz, beschreibt Söder die Lage. Tatsächlich wird die Besprechung von einem traurigen Rekord überschattet. Binnen 24 Stunden waren 410 Menschen an oder mit Corona gestorben – insgesamt steigt die Zahl der Toten in Deutschland damit auf 14.771 Menschen. Der bayerische Ministerpräsident gab damit den Ton der Sitzung vor – einen ernsten.

Proteste gehen unvermindert weiter

Derweil geht der Protest gegen die strengen Maßnahmen weiter: Mit einem Großaufgebot bereitet sich die Polizei in Frankfurt (Oder) auf eine Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen am Samstag vor. 1500 Teilnehmer sind laut Polizei angemeldet. Unter dem Motto „Länderübergreifende Zusammenkunft für Freiheit und den Frieden“ wollen die Demonstranten in der Nähe der Oder an der Grenze zu Polen protestieren. Auch aus anderen Bundesländern werden etliche Demonstranten erwartet, sagte der Sprecher. Ein Marsch der Gegner der Corona-Politik durch die Stadt sei nicht angemeldet. Derartige Demos waren zuletzt mehrfach eskaliert. Die Stimmung wird zunehmend gereizt.

Beim virtuellen Treffen der Politiker aber läuft es diesmal ruhiger ab als sonst. Die Länder treten geeinter auf, die Vorbesprechungen für die Weihnachtstage zahlen sich aus, es geht nicht mehr wie Kraut und Rüben durcheinander. Noch vor zehn Tagen hatte sich vor allem eine Südallianz aus Bayern und Baden-Württemberg Merkels strengem Kurs angeschlossen. Diesmal sind die Länder weitgehend auf einer Linie – auch weil die hohen Infiziertenzahlen nahezu alle betreffen. So hat etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) mit Hildburghausen den derzeit führenden deutschen Hotspot in seinem Bundesland.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sind die Schulen ein Herzensanliegen. „Der Küchentisch zu Hause in einer Zwei- oder Dreizimmerwohnung ist nicht der bessere Lernort. Der beste Lernort ist die Schule“, lautet seine Überzeugung. Allerdings werden die Debatten über die Schulen zunächst nach hinten geschoben.

Am früheren Abend stehen noch andere Fragen im Raum: 50 oder 200? Es geht um die Inzidenz in den Hotspots – wo zieht man die Grenze für stärkere Maßnahmen? Merkel ist für die 50, die Länder wollen eine höhere Zahl. Dem Vernehmen nach einigt man sich auf die 200er-Inzidenz. Dann wird erst mal eine kurze Pause eingelegt. Denn die Nerven sind bei allen angespannt – egal, ob in den Staatskanzleien oder im Kanzleramt.

Kerstin Münstermann/dpa

Kommentar von Gregor Mayntz: Die Anständigen wissen, was die Stunde geschlagen hat

Die Verantwortlichen in Bund und Ländern präsentieren sich seit Ausbruch der Pandemie als lernendes System. Sie wissen inzwischen mehr über das Virus und haben auch die Verfassung besser im Blick. Die gute Weiterentwicklung lässt sich bereits an einem Punkt im Vergleich der Ministerpräsidentenkonferenzen vor den höchsten Feiertagen erkennen: Vor Ostern scherte sich die Runde wenig um die verfassungsrechtlich garantierte Ausübung der Religionsfreiheit, vor Weihnachten kommt keiner mehr auf den Gedanken, dass jeder das Christenfest allein daheim verbringen müsse.

Die erste Phase war von explodierenden Infektionszahlen, rasanten Einschränkungen und einem schnellen Knick des Corona-Geschehens gekennzeichnet. In der zweiten Phase kamen der Politik die Effekte des ersten Lockdowns und das gute Wetter entgegen. Es schien zu funktionieren, kleinere regionale Ausbrüche in den Griff zu bekommen, um Zustände wie in Norditalien oder New York zu vermeiden, bis es mit dem Impfen losgehen kann. Darüber haben die Kabinette versäumt, rechtzeitig gegen eine noch viel größere Welle Vorsorge zu treffen, wenn die Effekte verpufft sind und das Wetter Corona begünstigt. Nun ist fast die gesamte Republik im roten bis dunkelroten Bereich.

Die Fragen werden mit jedem Tag bohrender. Warum ist die Begegnung von Schülern in großer Zahl am Vormittag unbedingt nötig, die Begegnung von Schülern in kleiner Zahl am Nachmittag aber unbedingt zu vermeiden? Und was soll das Ringen um die Zahl derer, die Weihnachten als Familie zusammen feiern „dürfen“? Der Staat weiß doch genau, dass er nicht vor jede Haustür einen Polizisten stellen wird, der mit Liste und Ausweiskontrolle die Ankömmlinge abhakt oder abweist. Und wie sinnig sind solche Zahlenvorgaben angesichts der unterschiedlichen Wohnverhältnisse? In der Großfamilie mit dem 60 Quadratmeter messenden Wohnzimmer kann ein Heiligabend zu zwölft weniger bedenklich sein als im Einzimmerappartement die Feier zu viert.

Ja, es braucht eine bessere Durchsetzung von unumgänglichen Schutzvorkehrungen. Familien, die gerade ihre Angehörigen verlieren, verlieren auch den Glauben an den Staat, wenn ihnen immer noch aggressive Maskenverweigerer in den Bussen und Bahnen begegnen. Die rücksichtsvollen Anständigen in diesem Land wissen am besten selbst, was die Stunde geschlagen hat, wenn nun täglich mehr als 400 Infizierte sterben.

E-Mail: gregor.mayntz@rhein-zeitung.net

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