Berlin

Nein zur Impfpflicht im Bundestag: Die Reaktionen – Wie es jetzt weitergeht

Von Basil Wegener, Sascha Meyer, Andreas Hoenig
Eine generelle Impfpflicht - sie ist gescheitert im Bundestag.
Eine generelle Impfpflicht - sie ist gescheitert im Bundestag. Foto: dpa

Karl Lauterbach steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz das Ergebnis dieser wohl historischen Abstimmung verkündet. Donnerstag, 12.43 Uhr: Jetzt ist klar, dass es in Deutschland absehbar keine Corona-Impfpflicht geben wird.

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Der Gesetzentwurf zweier Abgeordnetengruppen für eine Impfpflicht für alle ab 60 Jahren ist gescheitert. Bei der AfD bricht lauter Jubel aus, Fraktionschefin Alice Weidel hält es nicht mehr auf ihrem Sitz, sie klopft mit beiden Händen auf das Pult vor ihrem Stuhl. Wenig später twittert Gesundheitsminister Lauterbach: „Jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden.“

Das Nein im Bundestag zur Impfpflicht ist nicht nur ein Schlag für den SPD-Gesundheitsminister, der noch mal am Rednerpult dafür kämpfte. Es zeigt auch die Zerrissenheit der Ampel in der Corona-Politik und ist eine Niederlage für Kanzler Olaf Scholz (SPD).

„Wer gibt dem Staat das Recht, uns zu unserem angeblichen Glück zu zwingen?“

Alice Weidel (AfD)

Scholz war noch nicht im Amt, als er bereits Ende November nach einer Bund-Länder-Konferenz beim Fernsehsender Bild TV für eine allgemeine Impfpflicht eintrat. „Es sollte um alle Erwachsenen gehen“, sagte er in seiner ersten Regierungsbefragung im Bundestag Mitte Januar. Abgestimmt werden sollte im Bundestag ohne Fraktionszwang, wie bei ethisch heiklen Fragen öfters praktiziert. Allerdings war angesichts der Skepsis in der FDP auch nicht von einer stabilen Ampelmehrheit für eine Impfpflicht auszugehen.

Dass pro und kontra Impfpflicht im Bundestag hart aufeinanderprallen, zeigte eine erste Orientierungsdebatte Ende Januar. Scholz’ ursprünglicher Vorschlag einer Impfpflicht „Anfang Februar oder Anfang März“ war nicht mehr zu halten. Zwischenzeitlich rückte die Diskussion darum auch in den Hintergrund des Streits um den Corona-Kurs generell. Während die Omikron-Variante immer mehr um sich griff, bereitete die Ampel das Ende der meisten Corona-Auflagen vor. Das von Lauterbach und Justizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegte neue Infektionsschutzgesetz wurde unter Protest zahlreicher Ministerpräsidenten in Kraft gesetzt.

„Es geht nicht um Selbstschutz, sondern um Fremdschutz.“

Andrew Ullmann (FDP)

Bei der Impfpflicht blieb auch nach der ersten Lesung der inzwischen vorliegenden Anträge Mitte März eine Mehrheit über Wochen ungewiss. Noch am vergangenen Montag legten die Befürworter einer Pflicht ab 18 einen Kompromissvorschlag vor – nun für eine Impfpflicht ab 50 Jahren. Mit den Abgeordneten einer kleineren Gruppe um den FDP-Parlamentarier Andrew Ullmann probierten es die Befürworter zwei Tage vor der abschließenden Parlamentsdebatte noch mit einem Vorschlag für eine Impfpflicht ab 60 – vergebens. Dabei sah es am Donnerstag im Plenum zuerst so aus, als würde Scholz die Befürworter eigenhändig zusammentrommeln. Aus der Regierung verlautete, der Kanzler habe Annalena Baerbock (Grüne) eigens um Teilnahme an der Impfpflicht-Abstimmung gebeten, weshalb die Außenministerin früher vom Nato-Treffen in Brüssel abreisen musste, wo es um mehr Waffenlieferungen an die Ukraine ging.

Die Befürworter der Impfpflicht legten sich ins Zeug. SPD-Fraktionsvizin Dagmar Schmidt warnte zum Debattenauftakt vor neuen Corona-Auflagen im Herbst. „Es sind durchweg sehr gefährliche Varianten möglich“, mahnte Lauterbach. Gegner einer Impfpflicht machten indes deutlich, dass sie nicht vom Schlimmsten ausgehen. So sagte der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, deutlich gefährlichere Varianten seien „nicht das wahrscheinlichste Szenario“. Auch Anhaltspunkte für eine Überlastung des Gesundheitssystems gibt es aus verbreiteter Sicht in der FDP derzeit nicht.

„Es ist nicht die Aufgabe des Staates, erwachsene Menschen gegen ihren Willen zum Selbstschutz zu verpflichten.“

Wolfgang Kubicki (FDP)

Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) verteidigte noch einmal, warum die Union einen eigenen Antrag vorgelegt hatte. Die Union fordert darin erst einmal die Einrichtung eines Impfregisters. Dann folgte der erste Schreck für die Impfpflichtbefürworter an diesem Plenumstag. Zuerst ging es um die Reihenfolge der Abstimmungen über die insgesamt vier verschiedenen Impfpflichtvorlagen. Die Anhänger des Gesetzentwurfs pro Impfpflicht konnten sich nicht damit durchsetzen, dass ihr Antrag als letzter abgestimmt wird. Ihr Antrag kam stattdessen als erster an die Reihe – 378 Abgeordnete stimmten dagegen, nur 296 dafür, 9 enthielten sich.

Da dürfte es für die Befürworter kaum ein Trost sein, dass auch die beiden Anträge von Kubicki und anderen sowie von der AfD gegen eine Impfpflicht erwartungsgemäß scheiterten. Ebenso wie die Union mit ihrem Antrag für einen gestuften Impfmechanismus und ein Register. Nur 172 Abgeordnete stimmten dafür, obwohl die Unionsfraktion 197 Abgeordnete hat.

„Jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden.“

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

Prompt warfen die Grünen der Union „parteipolitisches Taktieren“ mit möglichen „erheblichen Folgen für den Herbst“ vor. Lauterbach hingegen meinte auf Twitter in einer ersten Reaktion: „Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter.“ Der Versuch, bis Herbst trotzdem noch eine Impfpflicht zu erreichen, solle nicht aufgegeben werden.

Unterdessen sind 14,4 Prozent der 69 Millionen Menschen ab 18 in Deutschland weiter ohne Grundimmunisierung gegen Corona. Bei den 24 Millionen Menschen ab 60 sind es 11,2 Prozent.