Berlin

Missbrauchsskandal – eine offene Wunde

Missbrauchsskandal – eine offene Wunde
Missbrauch im Angesicht von Gott: Zwar fand jeder zweite gemeldete Fall in Deutschland in der eigenen Familie statt. Jedes dritte Opfer wurde jedoch in einer Institution misshandelt. Und hier nimmt die katholische Kirche den unrühmlichen ersten Platz ein. Kritiker fordern jetzt, dass die Kirche beim Umgang mit den Opfern ihren Worten endlich Taten folgen lässt. Foto: dpa

Er hatte nur mit einigen Meldungen in der Lokalpresse gerechnet, löste aber eine bundesweite Skandal-Lawine aus: Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, machte vor einem Jahr 22 Fälle sexuellen Missbrauchs an seiner Schule öffentlich. In einem Brief an 600 ehemalige Schüler entschuldigte er sich im Namen der katholischen Einrichtung für die zum Teil Jahrzehnte zurückliegenden Taten.

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Von Anja Sokolow

Berlin – Er hatte nur mit einigen Meldungen in der Lokalpresse gerechnet, löste aber eine bundesweite Skandal-Lawine aus: Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, machte vor einem Jahr 22 Fälle sexuellen Missbrauchs an seiner Schule öffentlich. In einem Brief an 600 ehemalige Schüler entschuldigte er sich im Namen der katholischen Einrichtung für die zum Teil Jahrzehnte zurückliegenden Taten.

Nach und nach wurden auch in anderen Jesuitenschulen Fälle bekannt. Und nicht nur dort – auch im bayerischen Benediktinerkloster Ettal oder in der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim, aber auch in anderen Institutionen und im Privaten. Das Thema hat die Mitte der Gesellschaft erreicht, sagt die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann. Bei deren Telefonhotline sowie per Post meldeten sich seit Frühjahr 2010 bis heute rund 10 000 Betroffene und Angehörige, aber auch Ärzte und Therapeuten.

Gut jeder zweite gemeldete Missbrauch (rund 57 Prozent) fand in der eigenen Familie statt, jeder dritte in Institutionen wie Kirche, Schule oder Verein. Die katholische Kirche nimmt in dieser Gruppe den unrühmlichen ersten Platz ein und leidet unter Ansehensverlust und Kirchenaustritten. „Das war ein stürmisches Jahr, ein Sturm, der ganz viel aufgedeckt hat, viel verletzt hat, aber auch viel aufgeklärt hat“, sagt Mertes heute.

Zur Aufklärung beigetragen

Der 56-Jährige wirkt entspannt beim Gang durch die Schule in Berlin-Tiergarten. Am 28. Januar 2010, als „die Bombe hochging“ und seine Briefe öffentlich bekannt wurden, war das anders. Denn nach den Journalisten musste er auch seine 850 Schüler bei einer Versammlung informieren. „Ich musste den 10- bis 19-Jährigen völlig unvorbereitet erklären, was sexuelle Gewalt ist, dass sie nicht von bösen Monstern, sondern vom Lieblingslehrer ausgehen kann, und warum 30 Jahre lang geschwiegen wurde“, erinnert er sich.

Aus Sicht des Rektors war dies das Schlüsselereignis, das neben späteren Gesprächen viel zur Aufklärung beigetragen hat. „Ich glaube, dass die Schüler nach ein bis zwei Wochen das Gefühl hatten, es begriffen zu haben, und dann ist Ruhe eingekehrt“, sagt der Rektor, der Berlin eigentlich im Sommer 2010 turnusmäßig verlassen sollte. Wegen der Turbulenzen blieb er aber zunächst und wechselt in diesem Jahr an das Kolleg im badischen St. Blasien. Bei den Lehrern gebe es noch immer Gesprächsbedarf und auch „ein Gefühl von Opfersein“. Schließlich hätten sie plötzlich „wegen Verbrechern, die vor 30 Jahren hier schlimme Sachen gemacht haben“, unter Generalverdacht gestanden.

Mittlerweile gibt es einige Neuerungen. So gründete das Canisius-Kolleg mit anderen katholischen Schulen und Vereinen das Netzwerk Kinderschutz. Auch Präventionsrichtlinien wurden erarbeitet. Am Kolleg habe sich die Atmosphäre verändert, berichtet der Rektor: „Insgesamt gibt es eine Stärkung des Vertrauens, weil die Aufklärung das Vertrauen stärkt.“ Und plötzlich kamen auch Schüler zu Ehemaligentreffen, die sonst nicht dabei waren und sich nun als Opfer zu erkennen geben.

Ein Opfer ist der 47-jährige Matthias Katsch, der im Januar 2010 das Gespräch mit Mertes suchte und die Lawine mit auslöste. Er wurde als 13-Jähriger von zwei Priestern missbraucht und hat den „Eckigen Tisch“ als Opfervertretung gegründet. „Das Jahr war auf persönlicher Ebene ein Erfolg. Alle Betroffenen haben gespürt, dass sich etwas in ihrem Leben verändert hat“, sagt Katsch. Mertes habe erreicht, dass die Opfer ernst genommen worden seien. „Die Erkenntnis, du bist nicht allein, war für viele Betroffene eine befreiende Erfahrung.“

Mertes: Angebot „hilflose Geste“

Ein Thema bleibt noch offen: die Entschädigung. Mit den vom Jesuitenorden angebotenen 5000 Euro wollen sich die Opfer nicht zufriedengeben. Der „Eckige Tisch“ fordert 82 373 Euro pro Person. Dies entspreche dem Durchschnitt des Schmerzensgeldes, das Gerichte in den vergangenen Jahren für Schäden der Seele festgesetzt hätten. „Wir wollen etwas in der Hand haben für das nicht gelebte Leben und zur Lebensbewältigung“, sagt Katsch. Das Angebot des Ordens ist eine „hilflose Geste“, erklärt Mertes. Er wünscht sich Institutionen, die den Opfern helfen und einen Fonds, der Therapien oder Alterssicherung unterstützt.