Friedrichshafen

Last und Lust: Der Wunsch nach umweltfreundlicher Mobilität löst Innovationen in der Fahrradbranche aus

Von Klaus Reimann, Anke Mersmann, dpa
Wer nicht selbst in die Pedale treten will, kann sich ganz bequem in die Rikscha von Van Raam setzen.
Wer nicht selbst in die Pedale treten will, kann sich ganz bequem in die Rikscha von Van Raam setzen. Foto: dpa-tmn

In der Fahrradbranche herrscht Goldgräberstimmung. Das E-Bike hat dem ohnehin boomenden Zweiradgeschäft noch einen zusätzlichen Schub gegeben. Doch ganz gleich ob Tourenrad, Rennrad, Mountainbike, E-Bike oder Pedelec: Die Absatzzahlen schießen in die Höhe, die Anbieter stehen in einem harten Wettstreit und überbieten sich, wenn es darum geht, Neuerungen auf dem Markt zu platzieren. Davon können sich Besucher der Eurobike in Friedrichshafen überzeugen.

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Mehr als 1400 Aussteller aus 60 Ländern präsentieren bei der größten Plattform für die Zweiradbranche ihre Neuheiten. Vieles bei der Eurobike 2019 dreht sich um das Thema urbane Mobilität. Weg von fossilen, hin zu erneuerbaren Energien, das könnte das grundlegende Wirtschaftsprinzip der Zukunft sein. Besser statt schneller, lautet das Motto. Das Lastenrad ist dabei eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Es hat das Zeug dazu, das Stadtauto von morgen zu werden. Nur eben ohne Abgase und Parkplatzsuche.

Dieser Meinung ist zumindest der Koblenzer Fahrradpionier Franc Arnold. Seit mehr als 30 Jahren schon erfolgreich im Geschäft (Ergon, RTI Sports), hatte Arnold im vergangenen Jahr die Idee zu einem Lastenrad, das die Branche revolutionieren soll. In Friedrichshafen präsentiert die Firma Lastkraft GmbH aus Koblenz nun das Ergebnis dieser Ideen und Tüfteleien. „ca go“ heißt das Lastenrad mit Tretunterstützung, das Arnold gemeinsam mit einem Team erfahrener Ingenieure und Designer auf den Weg gebracht hat.

E-Antrieb ist nur etwas für Ältere? Falsch! Zunehmend haben jetzt auch Rennräder einen Akku integriert.
E-Antrieb ist nur etwas für Ältere? Falsch! Zunehmend haben jetzt auch Rennräder einen Akku integriert.
Foto: dpa-tmn

Mit einem Bosch-Hochleistungsmotor (Reichweite von bis zu 125 Kilometer) geht es mit diesem E-Cargo-Bike durch die Stadt. Komfortabel, kraftvoll, umweltschonend, vor allem aber sicher. Der Sicherheitsaspekt hat bei der Entwicklung des „ca go“ für Arnold eine wichtige Rolle gespielt. Ein optimiertes Bremssystem, eine Transportbox aus splitterfreiem und nachgiebigem Material und ein leichtes Handling sollen das Lastenrad für Familien mit Kindern, aber auch für Unternehmen zu einem attraktiven Fortbewegungsmittel machen. Die Transportbox hat ein stattliches Volumen von 200 Litern.

Ebenfalls auf der Eurobike ist Fahrrad Franz vertreten. Das Unternehmen mit Sitz in Koblenz betreibt bundesweit 15 Filialen. Für Bernd Müller, bei Fahrrad Franz für den Einkauf zuständig, decken sich die Kernthemen der Messe mit den Nachfragen der Kunden in Koblenz und der Region: E-Bikes sind schwer gefragt, ebenso Lastenräder, bei denen zunehmend elektrische Unterstützung im Kommen ist. „Gerade junge Leute sind an diesen Rädern als Nutzfahrzeuge interessiert, um das Auto stehen zu lassen“, meint er. Das gelte nicht nur im städtischen Bereich, sondern auch in ländlichen Regionen.

Last und Lust
Foto: Erik Kellar Photography

Bemerkenswert ist außerdem, dass zunehmend jüngere Radler aufs E-Bike umsteigen. Vor fünf Jahren, erklärt Bernd Müller, sei ein E-Bike-Kunde im Schnitt noch 60 Jahre alt gewesen, heute liegt der Altersdurchschnitt bei 45 Jahren – und die Tendenz ist sinkend. Begünstigt werde diese Entwicklung durch Leasingprogramme für Räder, die immer mehr Firmen in der Region für ihre Mitarbeiter anbieten – Stichwort Jobrad. „Wer least, greift meist zum E-Bike. Da liegt die Rate bei mehr als 90 Prozent“, sagt Müller.

Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) erlebt auch dank der E-Bikes einen ordentlichen Rückenwind. Von Januar bis Juni sind insgesamt 2,93 Millionen Fahrräder verkauft worden. Das ist ein Plus von rund 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die E-Bikes kommen auf rund 920.000 verkaufte Exemplare. Hier rechnet der ZIV sogar mit einem Wachstum von rund 12 Prozent für das Gesamtjahr. „Wir blicken sehr zuversichtlich in die Zukunft und freuen uns auf die weitere Entwicklung von Fahrrad und E-Bike“, teilte der Geschäftsführer des Verbands, Siegfried Neuberger, mit.

Der Koblenzer Fahrradpionier Franc Arnold (rechts, mit dem renommierten niederländischen Entwickler Gerrit Gaastra) präsentiert auf der Eurobike das Lastenrad „ca go“.
Der Koblenzer Fahrradpionier Franc Arnold (rechts, mit dem renommierten niederländischen Entwickler Gerrit Gaastra) präsentiert auf der Eurobike das Lastenrad „ca go“.
Foto: Erik Kellar Photography

Aber auch das Lastenrad ist im Kommen. 2018 wurden in Deutschland laut Zahlen des ZIV rund 40.000 Elektrolastenräder verkauft, das waren etwa 80 Prozent mehr als im Vorjahr. Es sei zwar ein sehr kleines Segment, aber eines, das immer stärker wachse, sagt ZIV-Sprecher David Eisenberger. Im „steilen Steigflug“ sind vor allem die Absatzzahlen von Lastenrädern mit Elektromotor, heißt es auch von der Eurobike. So sind auf der Leitmesse denn auch insgesamt 32 Hersteller von Transport- und Lastenrädern vertreten.

Fakt ist: Lastenräder sind in Städten nicht wesentlich langsamer als Autos. Das sagt Johannes Gruber vom Institut für Verkehrsforschung des Deutsches Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Er leitet Europas größten öffentlichen Lastenradtest und hat festgestellt: Bei Strecken bis drei Kilometer sind die Fahrtzeiten in etwa gleich, bei Strecken bis 20 Kilometer brauchen Lastenräder häufig nur wenige Minuten mehr.

Ist das Material Holz attraktiv für das Fahrrad? Dass es funktioniert, zeigt der Hersteller My Esel mit einem Exemplar, das dank der mit biometrischen Daten gefütterten Software genau auf die Anatomie des Fahrers zugeschnitten ist.
Ist das Material Holz attraktiv für das Fahrrad? Dass es funktioniert, zeigt der Hersteller My Esel mit einem Exemplar, das dank der mit biometrischen Daten gefütterten Software genau auf die Anatomie des Fahrers zugeschnitten ist.
Foto: dpa-tmn

Für Grubers Studie testen Unternehmen deutschlandweit – überwiegend mit Elektromotor. Über eine App werden die Teilnehmer befragt und ihre Wege aufgezeichnet. Bis Ende des Jahres werden laut Gruber etwa 800 Tester teilgenommen haben. Die Flotte von rund 150 Lastenrädern reicht längst nicht für alle Interessenten. „Wir haben grundsätzlich einen hohen Andrang von Klein- und Kleinstunternehmen.“ Etwa jeder fünfte Bewerber sei ein Handwerker. Knapp ein Drittel der Unternehmen kauft sich laut Gruber nach dem Test ein Lastenrad.

Damit Lastenräder ihr volles Potenzial entfalten können, fordert der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club neben kräftiger Förderung vor allem eines: mehr Platz in den Städten. Dazu gehören unter anderem breite Radwege, auf denen sich Fahrräder und Lastenräder überholen können. Klaus Reimann/

Anke Mersmann/dpa

Am Samstag dürfen alle zur Eurobike

Unter den mehr als 1400 Ausstellern in Friedrichshafen sind auch 150 Newcomer – für die Messe ein Beleg für die gegenwärtige Aufbruchsstimmung im Fahrrad- und Mobilitätsmarkt. „Die Bandbreite des Produktangebots auf der Eurobike ist weltweit einzigartig“, sagt denn auch Eurobike-Projektleiter Dirk Heidrich. An den ersten drei Messetagen ist das Fachpublikum unter sich. Nachdem der Publikumstag im vergangenen Jahr ausfiel, werden alle Fahrradfans in diesem Jahr am Samstag (7. September) zum Festivalday von 9 bis 18 Uhr eingeladen. Die Eintrittskarte kostet an der Tageskasse 16 Euro, im Onlineverkauf 13 Euro. An diesem Tag gibt es viele Veranstaltungen rund ums Fahrrad, Vorträge, Infos zu Radreisen (Holiday on Bike) und ein Freigelände mit verschiedenen Teststrecken, um eine Probefahrt mit einem der innovativen Räder zu starten.

Mehr Infos gibt es unter www.eurobike.com

Auf der Überholspur

Das Fahrrad ist ein absolutes Trendthema – und die Eurobike wartet entsprechend mit vielen Neuigkeiten auf, unter anderem mit intelligenten Helmen. Eine Auswahl:

Mit Blick auf die künftige Mobilität stehen auch Bike-Sharing und Fahrradleasing verstärkt im Fokus der Messe. Sharea heißt ein neues Konzept, das die Händlergenossenschaft ZEG auf der Eurobike erstmals vorstellt. Die namensgebenden Begriffe „Share“ und „Area“ beschreiben die Intention der Betreiber größerer Wohnanlagen, die ihren Mietern künftig ein in den Wohnraum integriertes E-Mobilitätsangebot machen möchten.

E-Scooter finden auf der Eurobike zunehmend Raum. Dank seiner großen Räder verspricht der AER 557 Adult Electric Scooter von AER Electric Company ein vergleichsweise sicheres Handling. Zugleich soll die stabile Rahmenkonstruktion für mehr Fahrdynamik sorgen. Es geht aber auch unmotorisiert: Mit schwarzem Rahmen und weißer Gabel kommt der Joker von Puky daher. Ein moderner Tretroller, mit dem sich die Firma aus Wülfrath auch an Erwachsene richtet. Mit luftbereiften 16-Zoll-Rädern soll der Joker gute Fahreigenschaften bieten. Sicherheit vermitteln zwei V-Bremsen und die rutschfest beschichtete Trittfläche des tiefen Aluminiumrahmens.

Neues gibt es auch für sportlich ambitionierte Fahrer. Die Frage „Mountainbike oder Rennrad?“ beantwortet Niner Bikes ganz neu mit dem MCR 9 RDO. Das Multitalent kombiniert die Merkmale eines Full Suspension-Mountainbikes mit einem Rennlenker und dem Handling eines Gravelbikes. Kein Tabu mehr ist ein Extraboost im Rennradbereich. Im Kiaro Pmax von Simplon steckt ein minimalistischer Leichtlaufmotor am Hinterrad und ein nicht erkennbarer Akku im Unterrohr – und es wiegt nicht einmal elf Kilo.

Als smarter Retter in der Not kann der Tectal Race SPIN NFC lebenswichtige Dienste leisten. Dieser Helm von POC, der sich bereits bei der Bergrettung bewährt hat, liefert den Rettungskräften die wichtigsten medizinischen Daten des Unfallopfers per RFID-Chip, der direkt vor Ort ausgelesen werden kann.

Für 2020 hat Busch & Müller das Innenleben seines Frontscheinwerfers IQ-X deutlich überarbeitet, der ein viermal helleres Tagfahrlicht bekommen hat. „Fahrräder ziehen auf Augenhöhe mit Pkws, erfahren so eine gewisse Gleichstellung und bieten dem Radfahrer entsprechend mehr Sicherheit“, äußert sich Sebastian Göttling von Busch & Müller. Der Wechsel zwischen Tag- und Nachtbeleuchtung erfolgt beim IQ-X selbsttägig mithilfe der Fotozellensensorik – ein Tunnel, eine Tiefgarage oder ein Gewitterhimmel können das Umschalten auch schon auslösen. Das Einschalten des Tagfahrlichts erfolgt mit acht Sekunden Verzögerung, damit es nicht etwa von nachts entgegenkommenden oder überholenden Autos verursacht wird.

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