Interview mit Jekaterina Schulman: Nichts fürchtet das Land so sehr wie die Isolation

Die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulman (38) ist Kolumnistin der renommierten Tageszeitung „Wedomosti“ und eine der gefragtesten Analytikerinnen Moskaus. Im Interview mit unserer Zeitung spricht sie über ein „repressives System“ und eine große Angst Russlands.

Lesezeit: 2 Minuten
Anzeige

Russland wählt am Wochenende eine neue Duma. Wahlkampf hat kaum stattgefunden. Steht das Ergebnis schon fest?

Seit 15 Jahren gehen die Menschen zum ersten Mal mit weniger Geld in den Taschen zur Wahl. Weder die Politik noch der Wähler wissen, wie sie damit umgehen sollen. Überraschungen dürfte es aber kaum geben. Für die Zeit nach der Wahl gilt das jedoch nicht mehr uneingeschränkt.

Meinen Sie den Protest nach den Wahlen 2011/12?

Damals war der Wahlausgang auch vorhersehbar. Massenhafte Proteste hatte niemand erwartet. Erst Unregelmäßigkeiten lösten Proteste aus. In autoritären Systemen garantieren Wahlen die Stabilität. Wenn es ungemütlich wird, dann erst nach dem Wahlgang. In Demokratien ist es umgekehrt. Das Ergebnis ist offen, danach läuft es wie gehabt weiter.

Welche Auswirkungen haben die damaligen Massenproteste auf die Wahl am Sonntag?

Der Protest zog Reformen nach sich. Das wird oft übersehen. Die Prozenthürde für die Duma sank von 7 auf 5 Prozent. Erstmals geht die Hälfte der Mandate wieder an Direktkandidaten. Die Zulassung von Parteien wurde erleichtert. Gleichzeitig arbeitet das repressive System jedoch auf Hochtouren.

Können Direktkandidaten der gleichgeschalteten Duma etwas mehr Leben einhauchen?

Sie sind nicht ganz so leicht zu steuern. Wenn sie Duma-Posten anstreben, müssen sie sich zu Gruppen zusammenschließen. Posten, die sie anderen streitig machen müssten. Sie sind vom Wählerwillen doch abhängiger als Listenkandidaten. Diese Duma wird hoffentlich etwas heterogener. Die Wirtschaftskrise zwingt die Regierung auch, sich wegen Haushaltsänderungen häufiger ans Parlament zu wenden. Zuletzt konnte es kaum noch bei Budgetfragen mit entscheiden. Über Geld und Vollmachten ist vorher schon ein verdeckter Kampf ausgebrochen.

Es gibt eine Reihe von sozialen Protesten im Land: Erst streikten die Fernfahrer, dann traten Grubenarbeiter nach Monaten ohne Lohn in den Hungerstreik. Zuletzt wollten geprellte Bauern mit Traktoren nach Moskau zu Putin aufbrechen ...

Diesen Protesten wird die politische Dimension abgesprochen. Doch was soll es sonst sein? Die Menschen wollen beachtet und beteiligt werden, wenn es um ihre Belange geht. Dieser Widerstand ist das Wichtigste, was zurzeit in Russland vor sich geht. Schemenhaft zeichnet sich ein alternatives Modell ab, das von der Rohstoffabhängigkeit wegrückt. Die Bürger sind das neue Öl. Noch werden sie ausgenommen und ihre Renten eingefroren. Dennoch wird das Versorgungsmodell des Staates unterhöhlt, und ein selbstbewusster Steuern zahlender Bürger wächst heran.

Lassen sich die Proteste mit dem Niedergang des sowjetischen Systems vergleichen?

Das Sowjetsystem war nicht reformierbar. Das jetzige ist extrem anpassungsfähig – bis zum Gesichtsverlust. Zäh und lebensfähig wie ein Wurm. Überlastung könnte eintreten, wenn an mehreren Stellen gleichzeitig protestiert wird, da das Geld ausgeht. Auch regionale Vielfalt könnte sich als Problem entpuppen. Zumal Moskau die Probleme in die Provinz zurückverweist. Unangemessene Reaktionen sind nicht auszuschließen.

Was wird denn aus Russland?

Es möchte auf allen Hochzeiten und Trauerfeiern dabei sein – als Braut und Verstorbener. Nichts fürchtet es so sehr wie Isolation. Daher ist es zu allem bereit: zu Aggression, Zugeständnis, Eskalation und Gesprächen ... Irgendwie gelingt das auch. Ich fürchte, Moskau könnte die Rolle eines weltweiten Gauners und Sündenbocks zufallen. Vorbild ist es ja nicht.

Das Gespräch führte Klaus-Helge Donath