Internet: Rund um die Uhr hinterlassen wir digitale Spuren

So viel Überwachung war nie: Im Jahr 2013 bleibt bei der Nutzung gängiger Technik kaum ein Winkel des persönlichen Lebens ungespeichert. Wir folgen den Datenspuren eines fiktiven Herrn Müller, der an einem ganz normalen Tag Handy und Internet nutzt.

Lesezeit: 6 Minuten
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Von unserem Digital-Chef Marcus Schwarze

6.47 Uhr:

Guten Morgen, ich bin wach! Herr Müller hat wie jeden Morgen die schicke Wecker-App „Sleep Cycle“ seines Handys genutzt, um sich zwischen 6.30 und 7 Uhr mit sanften Klängen wecken zu lassen. Da er das Handy regelmäßig stromversorgt unter dem Laken platziert, registriert es die nächtlichen Bewegungen im Schlaf und weckt ihn dann zu einem besonders günstigen Zeitpunkt bis spätestens 7 Uhr, wenn Müller sich in einem möglichst leichten Schlafzustand befindet.

Über Wochen und Monate erstellt die App Statistiken über den persönlichen Schlaf. „Hiermit stimme ich zu, dass meine kompletten Schlafdaten diagnostisch ausgewertet werden dürfen“, hat die App als E-Mail an den Hersteller geschickt – unbemerkt von Herrn Müller (Dieser Vorfall ist real).

7.15 Uhr:

Ich bin zu Hause! Bei der ersten richtigen Nutzung des Handys loggt es sich in die Funkzelle des Mobilfunkbetreibers, in das heimische WLAN und bei dem privaten sowie dem dienstlichen E-Mail-Postfach ein. Die Fritzbox führt auf die Sekunde genau Protokoll über diese Vorgänge, und Müllers Sohn Jonathan kann das später nachschlagen.

In der Firma führen sie regelmäßig Protokoll über die Einloggvorgänge in Postfächer der eigenen Mitarbeiter, und bei häufig wechselnden Zugängen mal aus Deutschland und mal aus Asien würde ein Intrusion-Detection-System den Administrator informieren. Hier aber ist alles klar, Müllers Mobilfunkbetreiber speichert wie üblich in minutiösen Protokollen jede Funkzelle, in die sich Herr Müller einloggt.

7.35 Uhr:

Ich kümmere mich – aber nicht gleich! Müllers Chef hat sich per E-Mail gemeldet, er hat eine Frage zur Präsentation am Freitag. Wie üblich fordert er in Outlook eine Lesebestätigung an. Herr Müller liest, man ist ja neugierig – und schon weiß der Chef, dass Müller zwar gelesen hat, aber nicht sogleich antwortet. Ist Müller ein fauler Sack? Nein, er frühstückt nur in Ruhe zu Ende.

8.30 Uhr:

Ich bin im Stau! Auf dem Weg zur Arbeit gerät Müller in einen Stau. „Mist“, denkt er sich, „warum hat mich das Navi nicht gewarnt?“ Während sein Passat mal mit Tempo 15 km/h und mal mit 5 km/h juckelt, sendet es diese Informationen an TomTom. Der Hersteller von Navigationssystemen sammelt solche Daten über außergewöhnlich langsam fahrende Fahrzeuge und schickt sie übers Mobilfunknetz an eine Datenbank.

Die registriert noch mehr langsam fahrende Autos auf der Straße und schließt messerscharf: Stau. Müllers Kollege Krökel bekommt von seinem Navi deswegen den entscheidenden Tipp: Heute die Umgehungsstraße nehmen. Krökel wird pünktlich eintreffen, Müller nicht.

9.02 Uhr:

Ich hatte eine Affäre! Der unpünktliche Müller steht im Stau und checkt aus Langeweile bei Facebook ein. Nichts Neues bei den Bekannten, aber seine vor zehn Jahren heimliche Liebesaffäre namens Andrea taucht plötzlich als Freundschaftsvorschlag auf. Wieso das? Müller hat vor Jahren jegliche Verbindungen zu ihr gekappt, sogar ihre Handynummer gelöscht. Dann dämmert ihm: Sein damaliger Kumpel Michael ist mit ihr gut bekannt.

Und von ihrem heutigen Arbeitgeber sind viele Mitarbeiter sowohl mit Andrea als auch mit Michael bei Facebook befreundet. Die Folge: Ein Facebook-Server hat die Adress- und Telefonbücher der früheren Kollegen und Bekannten zusammengeführt – und darauf basierend diesen Freundschaftsvorschlag ersonnen.

Nicht auszudenken, wenn die damals schon misstrauische Gattin diesen Vorschlag mitbekäme.

11.20 Uhr:

Sie liest meine Nachrichten nicht! Müller schickt seiner Frau eine WhatsApp-Nachricht: „Heute Abend Spaghetti de luxe?“ An dem einen grünen Haken erkennt er, dass sie die Nachricht auch Minuten später noch nicht abgerufen hat. Offenbar ist ihr Handy abgeschaltet. Wären es zwei, wüsste er, dass sie die Nachricht gelesen hat.

11.47 Uhr:

Ich verstoße gegen Datenschutzgesetze! Die Dropbox ist für Müller Gold wert. Seit einiger Zeit hat er sich angewöhnt, Präsentationen und andere Firmendokumente immer in dieser Dropbox abzulegen – einem Speicherverzeichnis auf dem Rechner, das sich automatisch mit einem Speicher im Web und außerdem auf dem Handy und seinem Laptop zu Hause abgleicht.

So hat er stets den jüngsten Stand seiner Dokumente parat. Was er nicht weiß: dass er damit seine Firma in die Bredouille bringt – denn durchs Speichern von Kundendaten auf Briefen auf fremden Servern verstößt er gegen Datenschutzgesetze. Erst vor ein paar Monaten war das US-Unternehmen hinter der Dropbox-Anwendung kurz in der internationalen Kritik: Durch eine Sicherheitslücke hatten Angreifer Zugriff auf die Daten auch von Herrn Müller.

Ob dies genutzt wurde, ist nicht bekannt.

12.20 Uhr:

Ich war mal in einem Erotikdienst! Über seinen privaten Mailaccount verschickt Herr Müller eine Beschwerde an den Fernsehdienst Sky. Die haben sich geweigert, ihm einen Receiver mitsamt Zugang zum heiß ersehnten Bundesliga- Fernsehen zu verkaufen.

Müller hatte sich vor ein paar Monaten in einer eingetroffenen Mail verklickt und aus Versehen auf ein Angebot für das lustige Basketball- Treffer-aus-50-Metern-Video geklickt. Tatsächlich war das ein Pornowebseiten- Betreiber. Und da er nun schon mal da war, schaute er sich um.

„Irgendwie“ hat der Computer … Nein, aus reiner Neugier hat er Müller dann ein Tagesticket für den Zugang per Paypal freigeschaltet. Zumindest behauptet das Herr Müller heute. Aus Sicht des Erotikanbieters hat er jedoch ein Jahresabo abgeschlossen.

Es gab hierzu regen Mailverkehr mit Androhung von Rechtsanwälten, und am Ende musste Müller nur einen Monat Zugang zu dem dubiosen Angebot bezahlen (35 Euro). Gleichwohl ist er seitdem als nicht vertrauenswürdiger Konsument in diversen Datenbanken gelistet. Und der Anbieter Sky akzeptiert ihn deshalb nicht als neuen Kunden.

Er wird deshalb den Namen seiner Frau angeben müssen, wie er am Telefon als Ratschlag erfährt. Das Telefonat wird bei Sky aufgezeichnet.

15 Uhr:

Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen! Herr Müller hat Kopfschmerzen und macht früher Feierabend, nach Rücksprache mit der Vorgesetzten. Die wundert sich erst, als Kollege Krökel ein Facebook-Video verteilt: Hand-Abklatschen der Betriebsmannschaft beim Fußballturnier vom vergangenen Wochenende.

Der das als Dritter „liket“, also mit einer Facebook-Markierung versieht, ist Müller. Wollte der nicht nach Hause? Wieso hat der noch Zeit für Facebook?

17.20 Uhr:

Ich bevorzuge Frauenschuhe? Herr Müller surft auf dem iPad auf dem Sofa durchs Web, eine Kopfschmerztablette hat geholfen. Beim Lesen der Nachrichten auf „Spiegel Online“ fallen ihm die merkwürdigen Anzeigen auf: Dort sind dauernd Werbeblöcke für Frauenschuhe zu sehen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass seine Frau sich diese Angebote zuletzt auf dem iPad angeschaut hat.

Und tatsächlich: Im Verlauf des Browsers findet er Seiten eines Schuhhändlers – sowie noch ein paar Seiten, die ihn stutzig machen: Ein Udo-Jürgens- Konzert? Just an jenem Abend in Frankfurt? Hatte er da einen Termin übersehen? Gedankenverloren blättert er in dem digitalen Kalender, den er mit seiner Frau zusammen bei Google Calendar eingerichtet hat.

Seitdem sie sich gegenseitig in die Kalender blicken, hat es viel weniger Streit gegeben. Und tatsächlich: Udo Jürgens steht im Plan. Wie sämtliche Termine der Kinder, vom Arztbesuch über Verabredungen mit Freunden bis hin zum Dienstplan, den der internetaffine Chef inzwischen eingerichtet hat.

Alles das liegt auf Servern des US-Unternehmens Google.

19.30 Uhr:

Ich gehe jetzt offline! Herr Müller erhält einen Anruf. Ein Mitarbeiter eines Callcenters aus Sachsen möchte ihm einen Sky-Receiver verkaufen. Herr Müller sagt „ich verbinde mal, bitte warten Sie“ und verlegt das Telefonat in die Warteschleife auf sein Handy – das ebenfalls im Haushalt per WLAN eingebucht ist und schon unter dem Bettlaken auf die Nacht wartet.

Fünf Minuten später, nach erfolglosem Warten, legt der Callcentermensch auf – wie Herr Müller später den Verbindungsdaten entnimmt. Kurz bevor er die Schlaf-und-Weck-App auf 7.15 Uhr justiert.

20.17 Uhr:

Ich lade mir einen Film! Nach „Spaghetti simpel“ (statt de luxe) setzt sich Herr Müller vor den Computer und lädt sich ein Video herunter. Sein Provider speichert dabei seine IP-Adresse – für ein halbes Jahr. Angemeldet hat er sich dazu in einer sogenannten Torrent- Tauschbörse – bei der Einzelteile eines Films von vielen gleichzeitig und gegenseitig hoch- und heruntergeladen werden.

Dass er dafür zwei Wochen später eine 1200 Euro teure Abmahnung von einem Anwalt bekommt, ahnt er heute nicht – sondern erfreut sich still an dem Film „Oblivion“, einem Endzeitdrama, in dem Drohnen jeden Schritt der Menschen überwachen.

Was für eine schlimme Fiktion.