Dresden/Elspe

Ich war Old Shatterhand

Karl May im Kostüm seiner Romanfigur Old Shatterhand mit der legendären Silberbüchse (Originalaufnahme um 1900). 
Fotos: Ullstein (1), Cinetext (2), dpa
Karl May im Kostüm seiner Romanfigur Old Shatterhand mit der legendären Silberbüchse (Originalaufnahme um 1900). Fotos: Ullstein (1), Cinetext (2), dpa Foto: ullstein bild

Am 4. Januar 1870 greift die Polizei im böhmischen Algersdorf einen verdächtigen Landstreicher auf. Auf dem Polizeirevier gibt der Mann, der sich Albin Wadenbach nennt, eine schillernde Geschichte zum Besten: Auf seiner Europareise seien ihm die Papiere abhandengekommen.

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Eigentlich komme er von der Insel Martinique, sein Vater sei dort ein vermögender Plantagenbesitzer. Erst nach Wochen stellt sich heraus: Der Mann ist Karl May – ein zu dieser Zeit wegen Hochstapelei und Raub gesuchter Kleinkrimineller aus Sachsen. Seine Fantasie macht ihn später zu einem der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Vor 100 Jahren, am 30. März 1912, starb Karl May in Radebeul bei Dresden.

Ein talentierter Märchenonkel

Der Schöpfer von Winnetou und Kara Ben Nemsi ist ein früher Popstar der Abenteuerliteratur, der sein Werk und seine Person in einem Gesamtkunstwerk inszeniert: Seinen Fans schickt er Autogrammkarten, auf denen er als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi posiert. „Old Shatterhand bin ich selbst“, will er seinen Lesern weismachen, die Abenteuer habe er alle erlebt. Doch Mays Reisen finden hauptsächlich in der gut bestückten Bibliothek seines Arbeitszimmers statt. Den Orient und die USA bereist er erst später als wohlhabender Tourist, als sein Hauptwerk schon geschrieben ist.

Die Resozialisierung vom Kriminellen May zum Schriftsteller vollzieht sich innerhalb mehrerer Haftstrafen von insgesamt fast acht Jahren in Zwickau und Waldheim: Karl May verschlingt alles, was die Gefängnisbibliothek zu bieten hat. Aus der Enge seiner Zelle träumt er sich in die fernen Weiten des Wilden Westens und in die Wüsten des Orients. Als er zuletzt mit 32 Jahren entlassen wird, hat er den Masterplan seines Erfolges in der Tasche: eine Liste mit 137 geplanten Erzählungen. Gefangenschaft und Flucht ziehen sich dabei als immer wiederkehrende Motive durch seine Geschichten.

Jahrelang schreibt May wie im Wahn, immer in gestochen klarer Handschrift ohne Korrekturen. In manchem Jahr produziert die Ein-Mann-Abenteuer-Fabrik fast 3800 Manuskriptseiten. Seine Alter Egos sind bärenstark, haben einen riesigen Wissensschatz und verfügen über überragende Fähigkeiten als Reiter, Arzt oder Fährtensucher. 1881 lässt der Schriftsteller sein unerschrockenes anderes Ich, die Figur Kara Ben Nemsi, mit seinem getreuen Begleiter Hadschi Halef Omar in der katholischen Zeitschrift „Deutscher Hausschatz“ erstmals durch die Wüste streifen. Old Shatterhand und sein Blutsbruder Winnetou sorgen wenige Jahre später im Wilden Westen für Gerechtigkeit. Der Erfolg der später in Buchform veröffentlichten Geschichten ermöglicht dem Vielschreiber ein Leben im Wohlstand: Mit seiner ersten Frau Emma bezieht er eine eigene Villa in Radebeul – die Villa Shatterhand, das heutige Karl-May-Museum.

Frühe Karriere als Hochstapler

Schon als Kind flüchtet sich May aus Hunger und Armut in eine Fantasiewelt von orientalischen Märchen und Abenteuerromanen. Geboren wird er am 25. Februar 1842 als fünftes von 14 Kindern einer Weberfamilie im heutigen Hohenstein-Ernstthal in Sachsen. Neun seiner Geschwister sterben kurz nach ihrer Geburt. Wegen geringer Verfehlungen – wie dem nie ganz geklärten Ausleihen einer Uhr bei seinem Zimmergenossen – ist der Berufsweg des Volksschullehrers schon früh zu Ende. Aus „Rache an der Gesellschaft“, wie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt, schlägt May daraufhin zunächst eine Laufbahn als Hochstapler ein. Die Ausbeute ist gering, in seinen Betrügereien tritt er aber bereits in verschiedenen „Bühnenrollen“ auf. Als „Augenarzt Dr. Heilig“ oder als Polizist, der angebliches Falschgeld „konfisziert“.

Gegen Ende seines Lebens stürzt das Fantasiegebäude des Erfolgsschriftstellers zusammen. Es kommt an die Öffentlichkeit, dass der angeblich weit gereiste Schriftsteller „Dr. Karl May“ nicht nur Erfundenes geschrieben, sondern auch eine kriminelle Vergangenheit hat. Auch sein Doktortitel stellt sich als Lüge heraus. In seinen letzten zehn Lebensjahren ist Karl May in 200 Prozesse verstrickt, deren Ende er nicht mehr erlebt. Er stirbt im Alter von 70 Jahren in der Villa Shatterhand.