Berlin/Rheinland-Pfalz

Hospitalisierungsrate als zentrales Kriterium: Warum die Datenbasis extrem unzuverlässig ist

Von Christian Kunst
Intensivstation
Ein Facharzt versorgt einen Covid-19-Patienten auf der Intensivstation der Leipziger Uniklinik. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Ob ein Bundesland härtere Corona-Regeln braucht, ob sich also das Leben von Millionen Bürgern von einem Tag auf den anderen einschneidend verändert, das wird seit Mittwoch anhand einer Kennzahl entschieden, bei der es um die Belastung von Kliniken geht. Doch der Hospitalisierungswert ist höchst umstritten und aus Sicht vieler Datenexperten kaum belastbar.

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Beim Robert Koch-Institut (RKI) ist man sich darüber längst bewusst und blickt daher auch weiterhin auf den Dreiklang von Inzidenz, Hospitalisierungsrate und Intensivbelegung. „Ganz Deutschland ist ein einziger großer Ausbruch“, sagte denn auch RKI-Präsident Lothar Wieler am Freitag – und forderte schärfere Maßnahmen. Doch in der politischen Kommunikation und als Richtwert für die Verschärfung der Corona-Maßnahmen steht jetzt die Hospitalisierungsrate im Zentrum: Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, setzen Bund und Länder auf neue Alarmwerte für Beschränkungen, die auf der Hospitalisierungsinzidenz auf Bundeslandebene beruhen – und nehmen dabei ausgerechnet in der sich aktuell dramatisch zuspitzenden Lage Abstand von der bislang als recht zuverlässig geltenden Inzidenz und Intensivbelegung. Wir beantworten dazu wichtige Fragen:

Was genau wurde beschlossen?

Bund und Länder haben einen neuen Krisenmechanismus vereinbart. Beim Überschreiten bestimmter Belastungsschwellen der Kliniken in einem Bundesland sollen dort schärfere Corona-Maßnahmen greifen – nach bundesweit einheitlichen Regeln. Dafür soll es künftig drei Stufen geben. Stufe eins bedeutet flächendeckende Zugangsregeln nur für Geimpfte und Genesene (2G) etwa zu Veranstaltungen, der Gastronomie, beim Friseur oder in Hotels. Bei Stufe zwei sollen auch für Geimpfte und Genesene zusätzlich Testnachweise oder andere Maßnahmen gelten (2G plus), etwa in Discos und Bars. Stufe drei heißt, dass – nach einem Landtagsbeschluss – weitere Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Veranstaltungsverbote kommen sollen.

Auf welche Zahl wird geschaut?

Orientierungsgröße ist die Hospitalisierungsinzidenz, die das RKI laufend für jedes Land ausweist. Erfasst werden die gemeldeten Krankenhausaufnahmen von Covid-19-Patienten pro 100.000 Einwohner in einem Sieben-Tage-Zeitraum – auf allen Stationen. Die Daten beziehen sich auf den Wohnort der Patienten. Als wesentliche Messlatte gilt der Wert schon seit September, da die reinen Fallzahlen wegen der Impfungen als nicht mehr so aussagekräftig gelten. Nur war bisher offen, wann es kritisch wird. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die Hospitalisierungsinzidenz daher einen „zahnlosen Tiger“. Jetzt haben sich Bund und Länder festgelegt, welche drei Stufen das sind: das Überschreiten der Hospitalisierungswerte von 3 (Stufe eins), 6 (Stufe zwei) und 9 (Stufe drei).

Wie funktioniert das genau?

Die genaue Umsetzung liegt bei den Landesregierungen. Sie können Detailregelungen treffen und laut Infektionsschutzgesetz etwa auch innerhalb des Landes regional differenzieren. Noch als Rahmen festgelegt wurde aber, dass Verschärfungen aufgehoben werden können, „sofern der Schwellenwert an fünf Tagen in Folge unterschritten wird“. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) riet auch mit Blick auf einen gewissen Zeitverzug bei Klinikmeldungen im Zweifel zu einem Vorabpuffer beim Gegensteuern: „Deswegen empfehle ich auch nicht, wenn man bei 2,89 ist, zu warten, bis es 3,01 ist.“

Welche Tücken hat die Zahl?

Das größte Problem bei der Beurteilung der aktuell angegebenen Hospitalisierungsinzidenz ist der teils enorme Meldeverzug. Der ist deutlich größer als etwa bei den täglich gemeldeten Neuinfektionen. Eine erste, fast bizarr wirkende Unschärfe entsteht schon dadurch, dass entscheidend für die Ermittlung der Hospitalisierungsrate nicht das Datum der Krankenhauseinweisung, sondern das des Infektionsfalls ist. Will heißen: Wenn ich beispielsweise an einem Mittwoch als Corona-Positiver beim zuständigen Gesundheitsamt erfasst werde, aber erst am Montag wegen starker Symptome in einem Krankenhaus als Covid-19-Patient aufgenommen werde, gehe ich in die Hospitalisierungsrate rückwirkend als ein Klinikpatient von Mittwoch ein – obwohl ich dann noch gar kein Klinikbett in Anspruch genommen habe. Würde dies spätestens wenige Tage nach der Klinikaufnahme auch tatsächlich in die Statistik eingehen, wäre dies wohl sogar ein erfolgsversprechendes Frühwarnsystem. Doch so ist es nicht: Kommt ein Corona-Patient neu in eine Klinik, kann es dauern, bis das zuständige Gesundheitsamt und nachfolgend das RKI davon erfahren. So zeigen die täglichen Datenanalysen auf dem Dashboard des RKI, dass aktuell gerade mal knapp 50 Prozent der in Rheinland-Pfalz ermittelten Daten von Covid-19-Klinikpatienten tagesaktuell sind. Daher dürfte die Hospitalisierungsrate in Rheinland-Pfalz, die aktuell mit 3,43 beziffert wird, laut Datenexperten tatsächlich etwa doppelt so hoch liegen. Und Rheinland-Pfalz steht da noch verhältnismäßig gut da. In Hamburg sind derzeit nur etwa 30 bis 40 Prozent der Daten, die der dortigen Hospitalisierungsrate zugrunde liegen, tagesaktuell. Einige Experten gehen davon aus, dass in der Hansestadt manche der Klinikfälle von heute wohl erst im Januar Eingang in die Statistik finden werden. Immerhin: Das RKI betrachtet den aktuellen Hospitalisierungswert 14 Tage lang unter Vorbehalt – was in vielen Bundesländern aber keinesfalls ausreichen dürfte. Denn die Unterschiede beim Melden sind zwischen den Bundesländern teils so groß, dass die Zahlen kaum miteinander vergleichbar sind. Theoretisch ist es möglich, dass bei einer eigentlich gleichen Rate an Klinikeinweisungen die offizielle Inzidenz in einem Bundesland noch im grünen Bereich liegt, während sie in einem anderen bereits deutlich darüber liegt – nur weil ein Land langsamer meldet als ein anderes. Schlechte Voraussetzungen für einen bundeseinheitlichen Richtwert, der über unser aller Leben entscheidet.

Wie kommt es zum Meldeverzug?

Hauptursache ist laut Deutscher Krankenhausgesellschaft ein Defizit in der Datenerfassung. „Bis heute gibt es kein digitales Meldeverfahren, in dem die Krankenhäuser täglich über eine Software an die Gesundheitsämter melden“, sagt deren Chef Gerald Gaß. „Das passiert auf Papier, per Fax und ist der Grund für die teils hohen Unterschiede. Die Realität wird hier nicht immer abgebildet.“ Die Defizite müssten dringend beseitigt werden, um ein einheitliches Meldeverfahren und vergleichbare Hospitalisierungsraten zu bekommen. Wie politisch gefährlich dieser Meldeverzug ist, das zeigt laut Datenexperten Sachsen. Dort scheint die Hospitalisierungsrate aktuell zu fallen – obwohl die Intensivstationen am absoluten Limit sind. Möglicher Grund: Die völlig überlasteten Krankenhäuser kommen mit dem Melden der Covid-19-Fälle nicht mehr hinterher. Das politische Signal einer fallenden Hospitalisierungsrate könnte aber fatal sein.

Was bedeutet das für die Beurteilung des Infektionsgeschehens?

Die Hospitalisierungsrate sei weder eine aktuelle Zahl noch spiegele der Wert die tatsächliche Belastung der Kliniken wider, kritisiert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Eine Expertengruppe vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung urteilte schon Ende Oktober, dass sich die Hospitalisierungsrate nicht als Entscheidungsgrundlage für ein angemessenes Pandemiemanagement eignet. Demnach habe die Abweichung zwischen der ausgewiesenen und der tatsächlichen Hospitalisierungsinzidenz – mit Nachmeldungen – in den vergangenen Monaten bei rund 48 Prozent gelegen.

Kurzum: Als alleinige Basis für die Einführung von strengeren Maßnahmen – also etwa 2G plus ab einem Wert von 6 – ist die Hospitalisierungsrate laut vielen Experten völlig unzureichend. Die Inzidenz der Neuinfektionen ebenso wie die aktuelle Belegung der Intensivstationen mit Covid-19-Patienten müssen weiter als Kriterien genutzt werden, um vorausschauend zu planen, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Brysch fordert ein „Covid-19-Radar“ für die Kliniken, der tagesaktuelle Parameter beinhaltet: Corona-Infizierte, Covid-19-Erkrankte, Corona-Tote und die Auslastung aller Stationen. RKI-Chef Wieler betont, dass die Inzidenzen und die Auslastung der Intensivstation weiter entscheidende Kriterien bei der Beurteilung des Infektionsgeschehens sind. „Es gibt drei wichtige Faktoren: Die Inzidenzen reflektieren die Infektionsdynamik, das ist der früheste. Das zweite ist die Hospitalisierung, die reflektiert die Schwere des Krankheitsgeschehens. Das dritte dann ist die Rate auf der Intensivstation – die ist ein Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems, und natürlich haben die Leute das alles im Blick, ganz sicher.“

Wie reagiert der Mainzer Gesundheitsminister Clemens Hoch (SPD)?

Auf Nachfrage unserer Zeitung sagt Hoch: „Die Hospitalisierungsinzidenz ist, wie sie ist. Die Kritik daran kennen wir alle. Aber die Bundesregierung und alle Länder haben sich nun auf ein neues System geeinigt. Dann hat es aus unserer Sicht einen Mehrwert, wenn alle Länder das einheitlich übernehmen. Dann haben die Menschen eine Orientierung. Ob die Hospitalisierungsinzidenz aussagekräftig genug ist, muss das RKI feststellen.“ Zugleich betonte Hoch: „Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass wir ein kluges und funktionierendes Warnstufensystem hatten.“ Für diese bis Mittwoch noch geltende Corona-Warnampel waren drei Leitindikatoren relevant: Neben der Hospitalisierungsrate spielten auch die Sieben-Tage-Inzidenz sowie der Anteil der Covid-19-Intensivpatienten eine Rolle. Lagen mindestens zwei dieser drei Faktoren an drei aufeinanderfolgenden Werktagen über einem Grenzwert, sprang die Ampel auf die nächsthöhere Stufe. Das war am Montag der Fall: Seitdem galt Warnstufe zwei. Bis Mittwoch. Seitdem gilt die neue bundeseinheitliche Warnstufe eins – allerdings mit strengeren Regeln. Doch glaubt man den Schätzungen von Expertengruppen, die den Meldeverzug einpreisen, dann dürfte die Hospitalisierungsrate auch in Rheinland-Pfalz längst über dem Schwellenwert von 6 liegen, der Warnstufe zwei auslösen würde.

Christian Kunst/Bastian Hauck/dpa

Christian Kunst zur Bedeutung von Daten bei Corona: Bund und Länder müssen Irrweg schnell beenden

Daten können Leben retten, Daten können auch über das Schicksal von Menschen bestimmen, Daten können daher auch über Leben und Tod entscheiden. Was bis März 2020 wohl nur in den Elfenbeintürmen einiger weniger Wissenschaftler Beachtung gefunden haben dürfte, ist heute der Diskussionsstoff in Parlamenten und Talkshows. Ob R-Wert, Inzidenzzahlen oder aktuell die Hospitalisierungsrate – Daten sind die Grundlage für politische Entscheidungen in der Corona-Pandemie geworden, über Wohl und Wehe von Menschen.

Vor diesem Hintergrund ist es geradezu fahrlässig, dass sich Deutschland beim Umgang mit Daten teilweise noch immer im Zeitalter von Fax und Papier befindet. Verbunden mit dem föderalen Flickenteppich führt dies dazu, dass es beim zentralen Kriterium der neuen Corona-Strategie, der Hospitalisierungsrate, zu einem enormen Meldeverzug kommt. Das ist einem der größten Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte der Welt, wo einer der wichtigsten Impfstoffe entwickelt wurde, unwürdig. Von Deutschland darf man deutlich mehr erwarten.

Noch unverzeihlicher ist es, dass Bund und Länder ihre Strategie in der bislang dramatischsten Pandemiewelle ohne Not plötzlich auf ein Kriterium umstellen, das völlig zahnlos ist. Das Divi-Intensivregister wird indes tagesaktuell mit Daten bestückt, die die dramatische Lage besser beschreiben. Auch die Inzidenzen sind trotz der Impfungen weiter ein hilfreiches Warninstrument, an das sich viele im Übrigen gewöhnt haben. Bund und Länder müssen ihren Irrweg so schnell wie möglich beenden – ehe aufgrund dieser Datenbasis weiteres (politisches) Unglück geschieht.

E-Mail: christian.kunst@rhein-zeitung.net

Corona-Virus in Rheinland-Pfalz
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