Berlin

Heftige Sexismus-Debatte: Zehntausende Kommentare im Netz in wenigen Tagen

Mit etlichen Textbeiträgen haben in den vergangenen Tagen zahllose Frauen im Internet gegen Sexismus im Alltag demonstriert. Twitter, Facebook und zahlreiche Internetblogs sind Schauplatz der Diskussion. Der „Aufschrei“ im Netz erreichte am Wochenende auch das politische Berlin. Ein Ende der Debatte ist nicht absehbar.

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Von unserem Digitalchef Marcus Schwarze

Vordergründiger Anlass war ein Beitrag im „Stern“ (wir berichteten), der auf manche Beobachter zunächst aufgebauscht und politisch motiviert wirkte. In der Folge jedoch entfaltete er ungeahnte Resonanz im Internet – und legte dort ganz offensichtlich ein gesellschaftliches Problem beispielhaft frei.

In dem Artikel hatte eine Journalistin das angeblich anzügliche Verhalten des FDP-Politikers Rainer Brüderle in einer Stuttgarter Hotelbar geschildert. Dem Bericht zufolge soll er sich ihr am späten Abend in eindeutiger Absicht genähert haben: „Brüderles Blick“, schreibt Laura Himmelreich, „wandert auf meinen Busen.“ „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“, soll Brüderle gesagt haben. Im Laufe des Gesprächs habe er nach der Hand der heute 29-Jährigen gegriffen und sie geküsst.

Kritiker werfen „Stern“ kalkuliertes Handeln vor

Der Vorfall ereignete sich bereits vor einem Jahr – weswegen viele Kritiker aus der Medienbranche den „Stern“-Beitrag als unseriöse und kalkulierte Veröffentlichung just nach dem Aufstieg Brüderles in die FDP-Bundesspitze abtaten. Die „Stern“-Redakteurin hat mittlerweile klargestellt, dass sie sich von Brüderle nicht sexuell belästigt, geschweige denn bedroht gefühlt habe. Brüderle bekommt zudem viel Rückendeckung – von seiner Partei, aber auch von politischen Weggefährten wie Kurt Beck, der der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagte: „Man kann über Sexismus debattieren. Die jetzige Debatte ist aber maßlos, und vor allem ist Rainer Brüderle überhaupt nicht als negatives Beispiel dafür geeignet.“

Brüderle selbst schweigt (noch) zu dem Artikel. Umso lauter reagiert das Internet. Denn der „Stern“-Bericht hat eine allgemeine Debatte über Sexismus in Deutschland ausgelöst. 25 000 Beiträge kamen allein bei Twitter unter dem Stichwort „Aufschrei“ zusammen. Viele Frauen schilderten in der bei Twitter üblichen Kurzfassung, wie sie von Männern belästigt worden sind. Beispiele:

„Der Typ in der U-Bahn, der mir kurz vorm Aussteigen von hinten zwischen die Beine greift. Und alle, die trotz Geschrei wegsehen. #aufschrei“

„Vom Vorgesetzten, dem man seine beruflichen Ziele offenbart, ,Dazu müssen Sie sich aber mehr kurze Röcke zulegen' zu hören kriegen #aufschrei“

„Der Kollege, der sich von hinten über mich beugt, mit seiner Brust meine Schulter berührt, um auf meinen Bildschirm zu schauen.“

Zehntausende kurze Schilderungen dieser Art wurden verbreitet. Ob jeder Vorfall zutrifft, lässt sich nicht überprüfen. Teilweise werden Straftaten beschrieben, wie etwa im Fall eines Universitätsprofessors in Wien, der Studentinnen gegen Sex bessere Beurteilungen gegeben haben soll. Teilweise geht es um Herrenwitze oder unzüchtige Blicke. Die schiere Zahl der genannten Vorfälle aus verschiedenen Quellen lässt den Schluss zu: Frauen werden häufiger und verletzender belästigt, als bisher in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.

Ihren Anfang nahm die Welle durch einen Beitrag der 31-jährigen Anne Wizorek: „Wir sollten diese Erfahrungen unter einem Hashtag sammeln. Ich schlage #aufschrei vor.“ Auf der Internetseite von Twitter und in den entsprechenden Programmen auf dem Handy oder Computer werden durch solche Hashtags (Stichwörter mit einer Raute #) alle Beiträge auffindbar, die dasselbe Hashtag enthalten. Dadurch entstand binnen kürzester Zeit eine kaum endende Folge an Beiträgen – auch von Männern:

„Was ist das für 'ne Gesellschaft, in der manche Männer denken, es sei okay, wenn Frauen in ständiger Abwehr leben?“

Reaktionen im Internet: Von Solidarität bis Sarkasmus

Initiatorin Wizorek sagte „Spiegel Online“: „Alltagssexismus ist in vollem Gange.“ Das Thema werde unter den Teppich gekehrt, und das belaste viele Frauen. Ein ums andere Mal schienen allerdings die Reaktionen selbst den Vorwurf einer sexistischen Grundhaltung zu bestätigen. So äußerte Philipp Stompe, FDP-Politiker aus Marburg, laut der „Oberhessischen Presse“ auf seiner Facebook-Seite: „Liebe Frau Himmelreich, angeblich sollen Sie ja ein ,Dirndl gut ausfüllen können‘. Freuen Sie sich doch über das von Gott gegebene Geschenk!“

Ironie, Sarkasmus oder eine weitere Grenzüberschreitung? Jedenfalls gab es darauf teils heftigen Widerspruch: „Eine der tiefsten Verachtungen, die ich jemals empfand, gilt den Leuten, die #aufschrei ironisieren oder persiflieren“, schrieb etwa der Fernsehjournalist Mario Sixtus. „Für Frauen“, twittert Nicole Simon, „ist die Frage nicht, ob sie je belästigt wurde, sondern nur, wie lang das letzte Mal her ist.“

Andere Medien enthüllten weitere angebliche Annäherungsversuche von Politikern. So beschrieb die „Welt am Sonntag“, wie der frühere Bundeskanzler Willy Brandt der Reporterin Inga Griese die Hand aufs Knie gelegt haben soll; wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Uwe Barschel mit der Journalistin geflirtet und wie Hans- Dietrich Genscher ihr gegenüber geäußert haben soll, ihre „Lippenstiftfarbe schmecken“ zu wollen. Und wie die inzwischen gealterte Reporterin heute darauf reagiert, wenn sie jenen Rainer Brüderle wiedertrifft und er zu ihr sagt: „Sie werden ja immer jünger!“ Sie freue sich dann über das Kompliment.