Berlin

Flüchtlingsproblematik: Merkels Extrabonus ist weg

Angela Merkel
Nachdenklich: CDU-Chefin Angela Merkel. Foto: Jens Büttner/dpa

Politiker von CDU und CSU hatten sich gern daran gewöhnt, mit den hohen persönlichen Vertrauenswerten für ihre Kanzlerin auch die Wahlabsichten für ihre Parteien stabil oberhalb der 40-Prozent-Marke zu sehen. Doch seit die Flüchtlingsproblematik die Nation erschüttert, die Kritik an CDU-Chefin Angela Merkel zunimmt, rauschen auch die Wahlpräferenzen für die Union in den Keller: Nach 43 Prozent noch im August, 39 im September kam das Insa-Institut nun nur noch auf 35 Prozent. Die AfD wuchs im Gegenzug auf 8,5 Prozent. Nur eine Delle? Oder kann es noch schlimmer kommen?

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Von unserem Berliner Korrespondenten Gregor Mayntz

„Mitten in der Legislaturperiode sind auch noch ganz andere Prozentsätze denkbar“, sagt Meinungsforscher Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen unserer Zeitung. „Verfall kann heute ganz schnell stattfinden“, erläutert Jung. Die Volatilität sei bei den Wahlabsichten so stark angestiegen, dass „in kurzer Zeit dramatische Veränderungen nach oben und unten“ zustande kommen können. Die tiefsten Werte für die Merkel-Partei seit Jahren erklärt Jung damit, dass die Gesamtgesellschaft zum Thema Flüchtlinge polarisiert ist. Die zurückliegenden „untypisch hohen“ Werte für Merkel hätten mit ihrer „präsidentiellen, nichtpolarisierenden Positionierung“ zusammengehangen. Indem Merkel nun Teil der Polarisierung ist, gibt es den „Extrabonus“ nicht mehr. Daher taucht sie in der „Normalbewertung politischer Akteure“ auf. Merkel ist inzwischen zur „Hassfigur der AfD-Anhänger“ geworden. Das hat Auswirkungen auch auf ihre persönlichen Sympathiewerte. „Die drücken ihr derart negative Bewertungen rein, dass sich ihre Durchschnittswerte stark verwässern, obwohl sie bei den Unionsanhängern immer noch sehr viel Rückhalt hat“, erklärt Jung.

Unionsstrategen raufen sich über die beinah täglichen Angriffe von CSU-Chef Horst Seehofer die Haare. Er erhöhte mit einem Ultimatum zur Begrenzung der Zuwanderung den Druck. Nach Allerheiligen will Bayern andernfalls über „andere Handlungsoptionen“ nachdenken. Parteivize Julia Klöckner kritisierte, dass man „mit Ultimaten nicht viel weiter“ komme. Auch die Analyse des Demoskopen Jung lässt am Sinn der Seehofer-Strategie zweifeln. Sogar in der Unionsanhängerschaft sei die Zustimmung zum Seehofer-Kurs deutlich geringer als die Unterstützung des Merkel-Kurses. Ungeteilte Zustimmung finde Seehofer „eigentlich nur bei den AfD-Anhängern“. Die Erfahrung zeigt, dass man mit solchen Positionen den politischen Gegner stärkt, der diese lupenrein vertreten könne. Gerade die CSU hätte, sagt Jung, aus dem Europa-Wahlkampf lernen müssen, als sie in der Rolle des Ober-Euro-Kritikers ein schlechtes Ergebnis einfuhr. „Man kann als Volkspartei keine Position verfolgen, die vielleicht aus Angst vor Stammtischmeinungen entsteht“, betont Jung.

Der langjährige Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter Schöppner („Mente-Factum“) sieht die unterschiedlichen Positionierungen von Merkel und Seehofer weniger dramatisch. Es gebe auch in der Bevölkerung fast gleich starke Bestrebungen. Die eine will die humanitären Verpflichtungen durchziehen und sagt mit Merkel „wir schaffen das“, die andere betont die Überforderung Deutschlands und ist überzeugt „wir schaffen das nicht“. Merkel habe sich derart weit aus dem Fenster gelehnt, dass es für sie persönlich schwer werde, wieder einzuknicken.

In dieser Gemengelage liegt jedoch für die Union eine große Chance: Wenn Seehofer auf der einen Seite die Schärfe herausnehme und auf der anderen Seite Merkel rigider werde und zu mehr geordneter Flüchtlingspolitik übergehe, sei die Union die einzige Kraft, die beide Flanken abdecke. „Wenn CDU und CSU das geschickt anstellen, wird es für sie zur Win-win-Situation“, sagt Schöppner voraus. Es gebe zudem ein Verständnis für das Vorgehen Seehofers, da Bayern besonders belastet sei und angesichts dramatischer Folgen besonders darauf drängen müsse, dass die ungezügelte Zuwanderung aufhöre.

Wie Jung verweist auch Schöppner auf die fehlende Alternative zur Union. Rot-Rot-Grün oder die SPD stellten keine Alternative zu Merkels Flüchtlingskurs dar. Die AfD biete zwar Protest-, aber kein inhaltliches Parteienpotenzial.