Berlin

Fluchthilfe war auch Rache am DDR-System

1964 beim Tunnelbau an der Bernauer Straße: 57 Menschen konnten dank  der Fluchthelfer in den Westen gelangen. Am 3. und 4. Oktober 1964  gelang der Durchbruch. Erst nach zwei Tagen wurde das Schlupfloch in  Ost-Berlin von den Grenzsoldaten entdeckt.
1964 beim Tunnelbau an der Bernauer Straße: 57 Menschen konnten dank der Fluchthelfer in den Westen gelangen. Am 3. und 4. Oktober 1964 gelang der Durchbruch. Erst nach zwei Tagen wurde das Schlupfloch in Ost-Berlin von den Grenzsoldaten entdeckt. Foto: dpa

Es war eine Art Wettrüsten: je kreativer die Flüchtlinge, desto härter die Mittel, mit denen die DDR ihre Grenzen zu sichern suchte. In den 28 Jahren der Teilung nach dem Mauerbau im August 1961 gelang dennoch mehr als 40 000 Menschen die Flucht aus der DDR in den Westen. 5000 schafften es allein in Berlin über die monströsen Sperranlagen – oder unter ihnen hindurch.

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Berlin – Es war eine Art Wettrüsten: je kreativer die Flüchtlinge, desto härter die Mittel, mit denen die DDR ihre Grenzen zu sichern suchte. In den 28 Jahren der Teilung nach dem Mauerbau im August 1961 gelang dennoch mehr als 40 000 Menschen die Flucht aus der DDR in den Westen. 5000 schafften es allein in Berlin über die monströsen Sperranlagen – oder unter ihnen hindurch.
Manche tarnten sich als Ausländer, manche reisten im Kofferraum eines Diplomaten, andere stiegen in einen Ballon oder versuchten unterirdisch ihr Glück. Von 70 Tunnelprojekten war nur etwa ein Viertel erfolgreich. Hubert Hohlbein, gebürtiger Ostberliner, der heute in München lebt, half bei einem der spektakulärsten mit. „Wir haben uns wochenlang selbst kaserniert“, sagt er. „Aber wir haben es geschafft.“

Hohlbein und seine Freunde, die meisten von ihnen Westberliner Studenten, die sich zur „Gruppe Fuchs“ zusammengeschlossen hatten, harrten viele Tage des Jahres 1964 ohne Unterbrechung in ihrem Tunnel aus und gruben. „Überall lauerten Verräter“, erinnert sich Hohlbein. Im Osten wie im Westen. Denn auch die Westberliner Politik hatte kein Interesse daran, ihre sensiblen Verhandlungen über Passierscheine und andere Erleichterungen für die Menschen in der geteilten Stadt durch spektakuläre Fluchthilfeaktionen zu gefährden. Die Studenten durften kein Aufsehen erregen.

„Das kann man nur als Jugendlicher schaffen.“

Hubert Hohlbein (69) wundert sich heute über seinen eigenen Mut.

Ihr Plan: einen 145 Meter langen Tunnel zu graben, der im Westen in einem Wohnhaus beginnen und im Keller eines Wohnhauses in der Strelitzer Straße im Osten enden sollte. Unbemerkt gruben sich die Männer, alle Anfang 20 und alle mit dem Selbstvertrauen ausgestattet, dieses unkalkulierbare Risiko einzugehen, ein halbes Jahr lang unter der berüchtigten Mauer hindurch. Einer von ihnen, der Tiefbauwesen studierte, berechnete die Route. Das Schwierigste war es bei Tunnelprojekten, im Osten an der richtigen Stelle durchzustoßen. Auch die „Gruppe Fuchs“ verfehlte in der Bernauer Straße ihr Ziel. „Zum Glück“, meint Hohlbein. Denn zwei Ostberliner, die sich als Flüchtlinge ausgaben, hatten ihr Projekt bereits verraten. Die DDR-Grenzsoldaten wussten Bescheid – und warteten am vorgesehenen Ausgang. Doch die Tunnelbauer gruben sich stattdessen, ohne es zu wissen, zu einem sicheren Versteck durch: einem stillgelegten Toilettenhäuschen, unauffällig auf einem Hinterhof gelegen. Zwei Tage lang blieb das Schlupfloch nach Westberlin unbemerkt. Es galt, so viele Fluchtwillige wie möglich in kürzester Zeit zu benachrichtigen.

57 Menschen gelang die Flucht durch die schmale Höhle, die Hohlbein und seine Freunde geschaufelt hatten, darunter auch seine Mutter, die er seit seiner eigenen Flucht ein Jahr zuvor nicht mehr gesehen hatte. Für die Familie der Schwester mit ihren kleinen Kindern erschien die Flucht durch den engen Tunnel indes zu heikel, sie blieb mit ihrer Familie zurück. „Sie und ihr Mann hatten danach die größten Probleme“, erinnert sich Hohlbein. Sein Schwager, der Lehrer war, sei fortan benachteiligt worden. Klassenlehrer werden oder Karriere machen durfte er als Verwandter sogenannter Republikflüchtlinge nicht mehr. „Wir haben uns erst 1989 wiedergesehen, aber er hat mir das alles nie übel genommen.“ Für Hohlbein selbst war der Weg zurück zu den Verwandten in der DDR seit seiner eigenen Flucht selbst für einen kurzen Besuch versperrt. Als „Staatsfeind“ wurde er in allen Ländern des damaligen Ostblocks gesucht.

„Mir war klar: Dieses System ist nicht überlebensfähig.“

Hubert Hohlbein ist selbst geflüchtet.

Die Tunnelgräber, viele von ihnen wie Hohlbein ebenfalls selbst Geflüchtete, riskierten mit ihrer spektakulären Aktion auch die eigene Freiheit. „Wir waren immer bewaffnet“, berichtet Hohlbein. Als der Tunnel im Toilettenhäuschen entdeckt wurde, kam es am Eingang zu einer Schießerei zwischen Grenzsoldaten und Fluchthelfern – ein Soldat wurde tödlich getroffen. Die DDR-Regierung kommunizierte das Unglück als brutalen Übergriff westlicher Agenten. „Sie haben uns seinen Tod angelastet.“ Auch für die jungen Fluchthelfer war die Vorstellung, dass sie einen Menschen getötet haben sollten, über viele Jahre belastend. Wie sie nach dem Fall der Mauer und aus den dann zugänglichen Akten erfuhren, war der Soldat aber von der Kugel eines Kollegen getroffen worden – Hohlbein und seine Freunde hatten ihn nicht getötet.

Er selbst hatte schon für die eigene Flucht viel riskiert. Mit Freunden trainierte er lange – um dem SED-Staat in der Nähe des Wannsees dann einfach davonzutauchen. Danach habe er anderen, die sich nicht selbst helfen konnten, die Flucht ermöglichen wollen. „Das war auch ein Stück weit Rache nehmen dafür, dass dieses System mich in der eigenen Entwicklung behindert hatte.“ Hohlbeins Eltern waren selbstständige Unternehmer, die im Zuge der Verstaatlichung von Privateigentum in der DDR nach und nach alles verloren. „Schon als junger Bursche hatte ich mitbekommen, wie schwer es meinen Eltern gemacht wurde, ein Geschäft zu betreiben“, erinnert sich der heute 69-Jährige. „Mir war klar: Dieses System ist nicht überlebensfähig.“ Und er als „Kapitalistensohn“ würde es besonders schwer haben, sich eine Existenz aufzubauen.

Nach der Tunnelaktion machte Hohlbein zunächst weiter: Mithilfe einer Leiter holte er noch einen alten Schulfreund rüber in den Westen, für einen anderen besorgte er einen gefälschten Pass. Danach habe er „nicht mehr gekonnt“.

Auch für andere sei es immer schwerer geworden, neue Schlupflöcher zu finden. Die Fluchthelfer-Szene habe sich verändert. „Manche wollten plötzlich auch Geld damit verdienen.“ Den Anfang aber, da ist er sicher, hatten zu Beginn der 60er-Jahre „die Idealisten“ gemacht.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann