Kiew

Fall Debalzewos bringt Poroschenko in Bedrängnis

Nach der Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Debalzewo verlieren die Aufständischen in der Ostukraine keine Zeit. Ohne Befragung der Bürger in dem stark zerstörten Ort bestimmen sie den Separatisten Alexander Afendikow zum Bürgermeister und kündigen die Deportation gefangener Regierungssoldaten in ihr Hinterland an.

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Von Andreas Stein und Wolfgang Jung

„Wir haben unsere Stärke bewiesen“, sagt Separatistensprecher Eduard Bassurin in triumphierendem Ton. In Kiew schürt aber der Sieg der militanten Gruppen Befürchtungen, ihr Vormarsch könne weitergehen.

Die Uhren in der winterlich verschneiten Hauptstadt zeigen fast Mitternacht, als Präsident Petro Poroschenko eine mit Spannung erwartete Sitzung des Sicherheitsrats eröffnet. Sichtlich erschöpft kehrt der Oberbefehlshaber von einem Besuch an der Front im Osten zurück. Dort musste er den Verlust des Verkehrsknotenpunkts Debalzewo einräumen. „Die Stadt ist zerstört und gleicht einer Mondlandschaft“, schildert Poroschenko. Vieles scheint nun möglich. Verhängt der Präsident bei der Beratung, die mit fünf Stunden Verspätung beginnt, das Kriegsrecht – obwohl etwa Kanzlerin Angela Merkel davor warnt?

Der prowestliche Staatschef entscheidet sich schließlich dagegen – und schlägt zur Überraschung vieler eine internationale Friedensmission vor. EU-Polizisten möglicherweise aus Deutschland mit UN-Mandat im Donbass: Noch im September hatte Poroschenko eine internationale Friedensmission kategorisch abgelehnt. Damals hatte die Bundesregierung sogar schon ein Erkundungsteam in die Unruheregion geschickt, doch die geplante Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheiterte.

Poroschenkos taktisches Ziel ist klar, meint Dmitri Trenin vom Carnegie Center in Moskau: „Er will die Europäer drin, die Russen draußen und die Separatisten nieder halten“, sagt der Politologe. Anders als bei einer von Moskau vorgeschlagenen UN-Blauhelmmission im Donbass wäre Russland bei einer EU-Mission draußen. Und die Aufständischen würden sich zweimal überlegen, ob sie auf einen deutschen Polizisten schießen, bewertet Trenin Poroschenkos Kalkül. Doch die ersten internationalen Reaktionen auf den Vorstoß sind zurückhaltend. Zu kompliziert, zu gefährlich, ist zu hören.

Mit dem Fall von Debalzewo gilt die Front in der Ostukraine – nach zehn Monaten Krieg und mehr als 5000 Toten – als „begradigt“. Nun könnte der Friedensprozess in der leidgeprüften Ex-Sowjetrepublik endlich beginnen, der vergangene Woche bei Verhandlungen mit Merkel und Kremlchef Wladimir Putin vereinbart wurde, betonen Beobachter.

Doch die Eroberung von Debalzewo könnte bei den Aufständischen neue Begehrlichkeiten geweckt haben, fürchten vor allem Experten in Kiew. Strategisch könnten die Separatisten jetzt nach Slawjansk vorstoßen, ein Zentrum der Wasserversorgung – und ihre frühere regionale Hochburg. Doch dazu brauchen sie wohl Verstärkung aus Russland.

Dagegen dürfte nach dem „Debakel von Debalzewo“ die Kritik an Poroschenko, der eine politische Lösung der Krise anstrebt, lauter werden. Hardliner wie Regierungschef Arseni Jazenjuk bekommen zum Jahrestag des Sturzes von Präsident Viktor Janukowitsch Oberwasser.

Der russische Politologe Sergej Markow meint, dass die Separatisten nur weiteres Gebiet erobern müssen, damit der Westen schließlich einlenkt. „Wenn Slawjansk und Mariupol fallen, reagiert der Westen vielleicht noch mit weiteren Sanktionen – aber wenn dann noch Charkow und Odessa eingenommen werden, wird der Gegner zu Verhandlungen unter Rücksicht auf russische Interessen gezwungen sein“, meint er.

Politologen wie Pawel Felgenhauer zufolge geht es Moskau genau um dies: um den Sturz der proeuropäischen Kräfte, die durch die Maidan-Proteste vor genau einem Jahr an die Macht gelangt sind. „Die russische Regierung wird weiter alles versuchen, um einen Putsch in Kiew zu provozieren“, schreibt der russische Militärexperte in einem Beitrag für das Kiewer Magazin „Nowoje Wremja“. Bestes Mittel dafür sei die „Demütigung“ der ukrainischen Armee. Bei weiteren Niederlagen könne sich die derzeitige Führung in Kiew kaum mehr halten.