Remagen

Experte: Niedrig einsteigen und dann langsam anheben

Der Mindestlohn soll vor Armut schützen. Doch er kann auch umgangen werden, wie der Remagener Professor für Sozialpolitik, Stefan Sell, im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt.

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Remagen. Der Mindestlohn soll vor Armut schützen. Doch er kann auch umgangen werden, wie der Remagener Professor für Sozialpolitik, Stefan Sell, im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt.

  • Warum ist der Mindestlohn ein Thema?
  • In Deutschland ist seit Ende der 90er-Jahre der Niedriglohnsektor erheblich angestiegen – auch im internationalen Vergleich. Mittlerweile ist fast jeder vierte Arbeitnehmer betroffen. Vor allem seitdem es Hartz IV gibt, ist damit auch die Zahl der Aufstocker rasant gewachsen. Also derjenigen, die so wenig verdienen, dass sie staatliche Hilfe brauchen.
  • Neben den Scheinselbstständigen gibt es auch Zeit- und Leiharbeit, bei denen die Lohnkosten gedrückt werden. Wären diese durch einen Mindestlohn geschützt?
  • Ja, in vielen Fällen würde ein Mindestlohn von 8,50 Euro dazu führen, dass die Betroffenen aus dem Zuschussverhältnis herauskommen. Allerdings darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass ein flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn ein Allheilmittel für alle Fälle ist.
  • Wie könnten Arbeitgeber den Mindestlohn umgehen?
  • Natürlich reagieren Systeme immer auf die neuen Bedingungen. Ein Beispiel ist der neue Mindestlohn in der Pflegebranche: Dort wird die Untergrenze teilweise ausgehebelt, indem unentgeltliche Mehrarbeit verlangt wird. Der Vertrag gilt dann zwar für 35 Stunden, gearbeitet wird aber trotzdem 40 Stunden in der Woche. Das Prinzip gilt auch häufig im Einzelhandel.
  • Wie kann der Gesetzgeber dagegen vorgehen?
  • Zum einen sollte der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einführen, wie ihn auch andere Länder kennen. Wenn es ein Modell je Branche gibt, lädt das wiederum zu Schlupflöchern ein. Zudem gilt der allgemeine Mindestlohn für alle Arbeitnehmer ohne Ausnahme – auch für diejenigen, die nicht tarifgebunden arbeiten, oder für Arbeitnehmer, die aus anderen Ländern kommen, um hier zu arbeiten.
  • Warum ist die Lage in anderen Ländern so grundlegend anders?
  • Weil die deutschen Gewerkschaften in den unteren Lohnbereichen nicht mehr in der Lage sind, über ihre eigenen tariflichen Mindestlöhne eine ähnliche Wirkung wie ein gesetzlicher Mindestlohn zu entfalten. Dafür gibt es mittlerweile zu viele tarifungebundene Betriebe.
  • Welche positiven Effekte hätte ein Mindestlohn?
  • Der Mindestlohn schützt nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch Firmen, die auf Qualität setzen und den Preiskampf nicht mitgehen wollen oder können.
  • Wie würde der Arbeitsmarkt auf einen Mindestlohn reagieren?
  • Viele deutsche Ökonomen befürchten ein Arbeitsplatzsterben – allerdings stehen sie damit europaweit ziemlich isoliert da. Zudem sehen Arbeitgeber Löhne immer nur als Kosten, obwohl die Löhne zugleich den Konsum und damit die Volkswirtschaft stärken. Dieser Doppelcharakter des Lohns wird meist ausgeblendet. Ich gehe davon aus, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben, weil auch die Leistungen erbracht werden müssen. Die Wahrscheinlichkeit eines Stellenabbaus halte ich für sehr gering. Mit einer Ausnahme: wenn der Mindestlohn von Beginn an zu hoch angesetzt wird. Das schlägt dann vor allem auf Branchen durch, in denen die Lohnkosten 80 bis 90 Prozent ausmachen.
  • Wie sollte der Satz sinnvoll bestimmt werden?
  • Unabhängig von den Streitakteuren und durch eine Kommission auf Bundesebene. Dabei sollte man relativ niedrig einsteigen, zugleich aber eine jährliche Steigerungsrate einbauen. Damit hätten auch die Arbeitgeber Planungssicherheit.
  • An welchem Land sollte sich Deutschland orientieren?
  • Großbritannien ist relativ niedrig eingestiegen und hat den Mindestlohn dann schrittweise angehoben. Das hat keine Arbeitsplätze gekostet. Ein anderes Beispiel wären skandinavische Länder, wo die Gewerkschaften nach wie vor eine hohe Tarifdeckung von mehr als 90 Prozent erzielen, weil sie Konsenslösungen mit den Arbeitgebern erreichen.

Das Gespräch führte Peter Lausmann