Es knirscht gewaltig im Regierungsgebälk

Das Bild von der Titanic geht um: das deutsche Schiff durch Finanzkrisen schwer angeschlagen. Die Passagiere vertrauen auf professionelle Notfallpläne, doch die Mannschaft aus CDU/CSU und FDP wirkt kopflos: widersprüchliche Entscheidungen, Offiziere verdrücken sich, die dritte Klasse auf dem Unterdeck wird aufgegeben – und die Kapitänin weiß keinen Kurs zu sicherem Land.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Berlin – Das Bild von der Titanic geht um: das deutsche Schiff durch Finanzkrisen schwer angeschlagen. Die Passagiere vertrauen auf professionelle Notfallpläne, doch die Mannschaft aus CDU/CSU und FDP wirkt kopflos: widersprüchliche Entscheidungen, Offiziere verdrücken sich, die dritte Klasse auf dem Unterdeck wird aufgegeben – und die Kapitänin weiß keinen Kurs zu sicherem Land.

Von unserem Autor Andreas Pecht

Wohin zuerst schauen in diesen Tagen, da sich das Rad der ökonomischen und politischen Krisen unglaublich schnell dreht? Und das mit solcher Unwucht, dass kein Nachkriegsgeborener in Deutschland sich an Vergleichbares erinnert. Es gab viele Krisen, auch Wirtschaftskrisen, auch Regierungskrisen. In keiner aber stellte sich das Finanz- und Wirtschaftssystem umfassend selbst infrage. Nie war das Ansehen einer frisch gewählten Regierung – auch und gerade dank interner Widersprüche – nach nur ein paar Monaten derart ausgezehrt. Im Herbst als Liebesheirat gefeiert, würde sich kaum jemand über eine Scheidung des Paares Merkel-Westerwelle im Sommer wundern.

Beginnt man die Besichtigung der Gesamtlage von den jüngsten Ereignissen her, fällt gleich das Thema, nein das Dilemma Opel ins Auge. Rainer Brüderle (FDP) verkündet: Es gibt keine Milliardenhilfe für den Autobauer. Augenblicke später fährt Kanzlerin Angela Merkel ihrem Wirtschaftsminister in die Parade: Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Haben die beiden vorher nicht miteinander geredet? Macht in dieser Regierung jeder, was ihm gerade in den (Partei-)Kram passt?

Im Fall Opel verschärft die unterschiedliche Denkweise der Koalitionäre noch den Umgang mit einem ohnehin schwerwiegenden Problem. Ein globaler Großkonzern setzt der Regierung die Pistole auf die Brust: Arbeitsplätze nur gegen Staatsbürgschaften. Schon dieses für die Gegenwart fast typisch gewordene Szenario der faktischen Erpressung gewählter Regierungen durch privatwirtschaftliche Mächte ist kaum zu ertragen. Erst recht können die gegensätzlichen Reaktionen zweier Regierungsarme darauf bloß als blamable Kinderei verstanden werden.

Nur drei Tage zuvor wurde in mühseliger Klausur das deutsche Sparpaket geschnürt. Kaum verkündet, gerät es von allen Seiten unter Feuer – nicht zuletzt aus diversen Unionskreisen. Das ist auch gut so. Denn sein soziales Ungleichgewicht entzieht dem Paket die gesellschaftliche Legitimation: Dass gespart werden muss, sieht jeder ein. Dass aber die untere Hälfte der Gesellschaft die Hauptsparlast tragen soll und die Wohlsituierten ungeschoren bleiben, dieses Spiel mit dem Feuer sozialer Ungerechtigkeit ist sogar dem CDU-Wirtschaftsrat zu gefährlich.

Noch etwas weiter zurück stößt die Besichtigung der Lage auf jenes Phänomen, das als beschleunigter Personalverschleiß in Zeiten sich verschärfender Probleme bezeichnet werden kann. Hessens Ministerpräsident Koch will sich abseits der Politik einen Job suchen, Bundespräsident Köhler schmeißt „mit sofortiger Wirkung“ hin. Das sind die – vorläufigen – Höhepunkte in einer Reihe personeller Demontagen seit 2009. Michael Glos und Franz Josef Jung haben wir fast schon vergessen. Ebenso, dass der Niedergang von Jürgen Rüttgers mit käuflicher Nähe zu Lobbyisten begann. Mag sein, bald hängt auch Brüderle in der Galerie Ehemaliger. Wenn nicht sogar Guido Westerwelle selbst. Seinen Schneid hat ihm zuletzt nicht die Presse, sondern die steinige Realität abgekauft: statt Glanz und Gloria des Regierens der Canossagang zurück zur Sechs-Prozent-Partei.

Jeder dieser Fälle liegt anders. Und doch haben sie Gemeinsamkeiten. Sie fallen sämtlich unter Kanzlerschaften von Angela Merkel. Zugleich haben sie alle mit Politikverdrossenheit zu tun. Mal verdrießt die Politik selbst die Politiker: Mit den Herausforderungen einer krisenhaft sich verändernden Welt wird der althergebrachte Reiz politischer Ämter und Karrieren stumpf. Mal machen Volkes Misstrauen und Abneigung den Politakteuren das Geschäft sauer. Schließlich flicken sie sich auch noch gegenseitig am Zeug – sogar und gerade in der eigenen Partei oder Koalition.

Ein Lehrstück für aus dem Ruder laufende Politikkultur liefern die Nominierungen für die Wahl des Bundespräsidenten. Nach Köhlers Rücktritt tendierte die öffentliche Meinung klar zu einer starken Persönlichkeit mit überparteilichem Profil. Einem Menschen also, der begreift, dass Respekt für den Amtsinhaber nicht vom Amt kommt, sondern von dessen Inhaber zu erarbeiten ist. Einem auch, dem Staat und Volk mehr gelten als Parteien. Joachim Gauck könnte ein solcher Bundespräsident sein. Die Mehrheit der Deutschen würde ihn eben deshalb gern im höchsten Amte sehen. Die Kanzlerin aber hat statt seiner einen Getreuen auf den Schild gehoben.

Mag sein, Christian Wulff hat das Zeug, sich mit der Zeit vom Merkel-Kalkül zu emanzipieren. Dennoch war seine jetzige Nominierung ein fatales Signal. Jeder kann sehen, dass Finanz- und Euro-Krise grundlegendes Umdenken, mutiges Vorwärtsdenken und entschlossenen Eingriff tief hinein in die Wirtschaftsstrukturen nötig machen. Aber sieht die Regierung die Größe der Aufgaben ebenfalls? Die Nominierung von Wulff scheint das Gegenteil zu bezeugen: kleinliches Taktieren zwecks parteilicher Machtsicherung. Dieser verdrießlichen Prozedur setzt die FDP die Krone auf, wenn sie ihre Zustimmung zu Wulffs Wahl auch noch als Schachermasse im koalitionsinternen Streit benutzt.

Wie nun weiter? Geht da noch was – oder muss die Republik zähneknirschend einer zwar galoppierenden, aber sich hinziehenden Selbstauflösung der Regierung beiwohnen?