Berlin

Ein Präsident der ersten Wahl

Als der frisch gewählte Bundespräsident das Wort ergreift, bricht für einen Moment seine Stimme. Der für seine Eloquenz und Wortgewalt so viel gerühmte Joachim Gauck ist für den Bruchteil einer Sekunde sprachlos. „Was für ein schöner Sonntag“, beginnt er schließlich seine erste kurze Rede als Staatsoberhaupt.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Berlin – Als der frisch gewählte Bundespräsident das Wort ergreift, bricht für einen Moment seine Stimme. Der für seine Eloquenz und Wortgewalt so viel gerühmte Joachim Gauck ist für den Bruchteil einer Sekunde sprachlos. „Was für ein schöner Sonntag“, beginnt er schließlich seine erste kurze Rede als Staatsoberhaupt.

Die Anspannung ist ihm, dem sonst so souveränen „Demokratie-Lehrer“, deutlich anzumerken. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte bereits formuliert, was während dieser 15. Bundesversammlung im Berliner Reichstag spürbar für alle in der Luft liegt: „Die Erwartungen sind riesig.“

Die Erinnerung an die letzten unrühmlichen Wochen des Amtsvorgängers Christian Wulff (CDU) ist für viele noch nicht verblasst. Am Vorabend der Bundesversammlung, die Fraktionen haben traditionell ihre Wahlfrauen- und Wahlmänner zur Sammlung beim großen Empfang eingeladen, herrscht deshalb auch nicht überall gelöste Vorfreude auf den zweiten Wahltag in so kurzer Zeit. Erst 2010 war die größte parlamentarische Versammlung, die die Bundesrepublik kennt, zusammengekommen. Wulff, der sich damals erst im dritten Wahlgang gegen den Wunschkandidaten von Grünen und SPD durchsetzen konnte, sei in einer „beispiellosen Kampagne“ aus dem Amt gejagt worden, finden manche bei der CDU. Nach wie vor. „Bisher ist kein einziger Vorwurf gegen ihn bewiesen“, sagt etwa der rheinland-pfälzische CDU-Abgeordnete Joachim Hörster. Andere sehen es mit Skepsis, dass einem Nicht-Politiker wie Gauck offenbar eher das höchste Staatsamt zugetraut wird als einem von ihnen. Lammert spricht vor der Bundesversammlung am Sonntag deshalb vielen aus dem Herzen.

Neuer Kitt ist gefragt

„Die Demokratie braucht auch Vertrauen in ihre Repräsentanten“, erklärt er vor den mehr als 1200 Wahlleuten im Reichstag. „Ein auf Dauer gesetztes Misstrauen macht die Wahrnehmung öffentlicher Ämter unmöglich.“ Das Bedürfnis nach einem neuen Kitt ist groß. Viele Mitglieder der Bundesversammlung, die wie kein anderes Gremium für die Vielfalt der demokratischen Bürgergesellschaft steht, äußern es auch. Die Atmosphäre im Bundestag ist so feierlich, aber auch so nachdenklich wie selten.

Mehr als eine Stunde lang dauert es, bis alle Namen der Wahlleute verlesen sind. Es sind die Mitglieder des Deutschen Bundestages, viele Landespolitiker, aber auch Schauspieler, Sportler, sozial Engagierte, Alte und Junge. Die Tochter eines Opfers des rechtsterroristischen NSU ist darunter, die Mutter einer Referendarin, die beim Amoklauf von Winnenden erschossen wurde.

Unter den 62 Wahlleuten aus Rheinland-Pfalz sind nur wenige Nicht-Politiker. Die 28-jährige Vorsitzende des Hilfsvereins für Afrika „Aktion Tagwerk“, Nora Weisbrod, aus Mainz gehört zu den Wahlleuten der SPD und ist nach einer einzigen Begegnung mit Joachim Gauck überzeugt: „Er ist der Richtige. Man merkt, dass er hinter dem steht, was er sagt.“Authentizität kommt an in dieser Zeit, in der es nicht zum Besten steht mit dem Vertrauen zwischen Bürgern und ihren Politikern.

Auch der neue Präsident des Oberlandesgerichts Koblenz, Hans-Josef Graefen, Wahlmann der rheinland-pfälzischen CDU, wählt zum ersten Mal einen Bundespräsidenten. Nur für einen Moment verlässt er den Reichstag, um etwas frische Luft zu schnappen. Er möchte eigentlich nichts verpassen. Von hier draußen sieht man einige Hundert Bürger, die das Geschehen aus der Ferne verfolgen. „Es ist eine ganz besondere Ehre für mich, hier zu sein“, sagt Graefen. Gauck könnte doch jemand sein, der die alten und die neuen Bundesländer noch mehr zusammenführt. Die Erwartungen an den neuen Präsidenten sind nicht nur sehr hoch, sie sind auch sehr unterschiedlich.

Keiner will es gewesen sein

Als Norbert Lammert das Wahlergebnis verliest, sind im Reichstag viele überrascht. 108 Enthaltungen sind mehr, als man erwartet hatte. In allen Lagern kann es Abweichler gegeben haben: Bei der Union, weil Gauck ihr durch den FDP-Alleingang quasi übergestülpt wurde, bei den Grünen wegen seiner Äußerungen zu Sarrazin und der Occupy-Bewegung. Auch im linken Flügel der SPD dürfte sein Beharren auf dem Wert der Freiheit vor der sozialen Gerechtigkeit manchen gegen ihn aufgebracht haben. Partei- und Fraktionsspitzen der Union, der SPD, der Grünen und der FDP sind anschließend bemüht, sehr rasch zu erklären, dass die Abweichler sicher nicht aus ihren Reihen kommen. FDP-Chef Rainer Brüderle hat genug von zu hohen Erwartungen. „Es ist doch ein gutes Ergebnis. Diese Mäkelei ist doch jetzt schon wieder typisch deutsch.“

Joachim Gaucks erste Rede ist direkt und schnörkellos. Es ist sehr still im Saal währenddessen. Gauck beginnt, sich aus seiner Biografie heraus zu erklären. „Ich habe mir geschworen, keine einzige Wahl zu verpassen“, sagt er. Seine Stimme bebt. Viele hier haben ihn das schon oft sagen hören, aber es ist für ihn zu bedeutungsvoll, als dass es hier und jetzt nicht gesagt werden müsste. Mit 50 Jahren hatte Gauck, der in Rostock in der DDR Pfarrer war, nach dem Fall der Mauer zum ersten Mal frei gewählt. Bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer 1990, auch an einem 18. März, habe er „endlich Bürger sein dürfen“. Freiheit und Verantwortung, seine zentralen Themen, stehen auch jetzt im Zentrum seiner Rede. Gauck bleibt sich in seinen ersten Worten als Präsident treu.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann