Diskussion um artgerechte Haltung: Den Ebern steht ihre Libido im Weg

Wenn es um die Frage nach einer artgerechteren Haltung von Schweinen geht, geraten vor allem die Eber in den Blick: Das Kastrieren männlicher Schweine belegt auf der Skala der öffentlichen Empörung einen Spitzenplatz. Was vor allem daran liegt, dass der chirurgische Vorgang derzeit noch häufig ohne Betäubung des Tieres passiert. Das zieht die Aufmerksamkeit der tierschutzbedachten Kundschaft an – und lenkt zugleich ab von abgefeilten Zähnen, abgeknipsten Schwänzen und eingepferchten Muttersauen. Diese gängigen Methoden sind für deutsche Landwirte verboten. Offiziell. Denn in der Praxis gibt es nach wie vor noch Ausnahmeregelungen, auch bei der Kastration. Nach einem gangbaren Weg, der das Leid der Tiere mindert und den Bauern nicht in seiner Existenz bedroht, wird nach wie vor gesucht. Wer sich mit dem Problem näher befasst, merkt: Simple Lösungen gibt es nicht.

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1 Das Problem mit der Männlichkeit: Moderne Landwirtschaft ist auf maximale Effizienz getrimmt. Das birgt Probleme, weil die Natur sich nach eigener Laune benimmt. Vor allem männliche Tiere haben in der Nutztierhaltung oft das Nachsehen. So müssen Eierproduzenten männliche Küken entsorgen, weil die zum Eierlegen nicht taugen. Und Milchbauern wissen nicht wohin mit männlichen Kälbern, weil die nur Kosten produzieren. In der Schweinemast haben die Eber das Nachsehen. Zwar eignen sich männliche wie weibliche Tiere als Fleischlieferanten. Mit eintretender Geschlechtsreife beginnen einige wenige Tiere jedoch streng zu riechen. Sie sondern hormonelle Lockstoffe ab, die auf Menschen weniger anziehend wirken als auf Sauen. Um dieses Risiko auszuschalten, werden männliche Ferkel in ihrer ersten Lebenswoche kastriert. Dabei wird der Hodensack mit einem Messer aufgeschlitzt und der Samenstrang durchtrennt, um die Hoden zu entfernen. Der Eingriff dauert etwa fünf Sekunden. 100 Millionen Ferkel werden auf diese Weise jedes Jahr in der EU kastriert, 25 Millionen davon in Deutschland.

2 Gängige Praxis kollidiert mit geltendem Tierschutzgesetz: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, heißt es in Paragraf 1 des deutschen Tierschutzgesetzes. Deshalb ist das Entfernen der Hoden ohne Betäubung verboten, genau wie das Abknipsen von Ringelschwänzen oder das Abfeilen von Zähnen. Letzteres soll vermeiden, dass sich die Tiere untereinander anknabbern und beißen. Denn auch das führt zu schmerzhaften Wunden – für die Landwirte ein Dilemma. Der einfachste und günstigste Weg aus der Hormonfalle wäre eine lokale Betäubung. Das Injizieren eines Schmerzmittels direkt in den Hoden muss allerdings ein Tierarzt durchführen, das verursacht Aufwand und Kosten. Zudem bereitet auch der Pikser in die Weichteile dem Tier einen gewissen Schmerz. In Deutschland verlangt das Gesetz aber, Schmerz auszuschalten – Linderung allein genügt nicht. Einige Betriebe verabreichen vor dem Kastrieren deshalb ein Schmerzmittel. Freiwillig dazu verpflichtet haben sich solche, die nach QS-Standard arbeiten. Dort spritzt der Landwirt dem Tier kurz vor dem chirurgischen Eingriff ein Schmerzmittel in den Nacken. Es soll den OP-Schmerz stillen und Entzündungen hemmen.

3 Der Lösungsvorschlag der Politik: Nachdem die Tierschutzbestimmungen bislang nicht erfüllt sind, hat der Bundestag im vergangenen November die ablaufende Übergangsfrist in letzter Minute um weitere zwei Jahre verlängert. Zugleich hat er ein Narkosemittel zugelassen, das bislang nur in der Humanmedizin angewandt wurde. Isofluran Baxter darf nun auch Tieren per Inhalation verabreicht werden. Die Anwendung, zu der sich die Bioverbände verpflichtet haben, hat aber ihre Tücken: Das Gas gilt als umweltschädlich und verursacht beim Menschen Leber- und Nierenschäden. Das Verfahren benötigt zudem teure Apparate und geschultes Personal. In der Aufwachphase atmen die Ferkel weiter Narkosegas aus, was den Aufenthalt im Stall für Menschen zur Gesundheitsgefahr macht. Überdies belastet die Narkose den Organismus des Jungtieres stark, viele Tiere kühlen aus, weil sie sich zu lang nicht bewegen. Bis zu 25 Prozent wachen gar nicht mehr auf. Die hohe Verlustquote verteuert das Verfahren zusätzlich und macht es somit unwirtschaftlich.

4 Das fordern die Tierärzte: „Für das Tier schonender ist wahrscheinlich die Kastration, fürchte ich“, sagt Uta Wettlaufer-Zimmer, Fachfrau für Schweinehaltung beim Landesuntersuchungsamt. Die Veterinärmedizinerin ist in einem Schweinezuchtbetrieb groß geworden und kennt die Methode aus eigener Anschauung. „Die echte Innovation in Sachen Tierschutz gab es 2006, als die Frist für die Kastration von acht Wochen auf sieben Tage verkürzt wurde“, erläutert sie. Die Wundheilung verläuft bei Jungtieren schneller, sie werden nur kurz von der Mutter entfernt und finden dort schnell wieder Wärme und Trost. Das reduziert den Stress der Tiere und fördert ihre Genesung, argumentiert sie. Der Bundesverband der Tierärzte spricht sich hingegen für einen anderen Weg aus: Er hält die hormonelle Impfung, die sogenannte Immunokastration, für das schonendste und damit tierfreundlichste Verfahren.

5 Was geschieht bei der Immunokastration? Um die Bildung von Geschlechtshormonen zu verhindern, können Eber auch „chemisch kastriert“ werden. Dazu werden ihnen wie bei einer Impfung synthetisch hergestellte Antikörper in den Nackenmuskel gespritzt. Sie hemmen die Hormonbildung, lassen die Hoden schrumpfen und machen das Tier vorübergehend impotent. Das Verfahren ist reversibel, hält also nur für eine bestimmte Zeit an. Das gilt auch für den Bauern, sollte er sich den Stoff versehentlich injizieren.

6 Das sagt der Mäster: „Den jetzt eingeschlagenen Weg geht keiner mehr zurück“, glaubt Schweinemäster Tobias Fuchs aus Kehrig im Kreis Mayen-Koblenz. „Die Öffentlichkeit will betäubte Schweine, ob das fürs Tier wirklich besser ist oder nicht.“ Fuchs ist als Mäster fein raus – er bekommt die Ferkel zur Aufzucht bereits ohne Hoden und Ringelschwanz. Sein Beileid gilt den Sauenhaltern: „Die sind die Deppen der Nation und müssen alle Grausamkeiten durchführen.“ Die Margen für die Schweinebauern schwinden seit Jahren, zudem sinkt der Verbrauch, viele kleinere und mittlere Betriebe geben auf. Etwa 15 Euro verdient ein Mäster an einem Schwein in der konventionellen Landwirtschaft für vier Monate Mast. Der Impfstoff für die Immunokastration kostet 3 bis 4 Euro pro Tier – das sind 20 Prozent der Marge. Die Narkose für den chirurgischen Eingriff mit anschließender Wundversorgung schlägt sogar mit 5 bis 7 Euro pro Tier zu Buche. Klar, dass es manchem Landwirt da zuerst ums eigene Überleben geht, erklärt Fuchs. „Aber die Pharmafirmen verdienen sich künftig eine goldene Nase.“

7 Warum kann man den Eber nicht Eber sein lassen? In Spanien werden 80 Prozent der Jungeber vor der Pubertät geschlachtet – unkastriert. Aufgrund ihres geringeren Schlachtgewichts (etwa 90 statt 100 Kilogramm) gilt diese Methode in Deutschland aber als unwirtschaftlich. Zudem ist die Ebermast nicht unproblematisch. Im Rudel werden die Tiere mit zunehmendem Alter aggressiv und tragen ihre Rangkämpfe aus. Damit es nicht zum häufig auftretenden Verhalten kommt, bei dem sich die Tiere gegenseitig blutig beißen – bevorzugt in den Penis –, verlangt die Aufzucht deutlich mehr Platz. Das macht die Ebermast für kleinere Betriebe finanziell unattraktiv. Nur rund 10 Prozent der deutschen Landwirte mästen Eber, damit gilt der Markt als gesättigt.

8 Welche Rolle spielt der Kunde? Die Branche liefert, was der Käufer wünscht. Beim Fleisch heißt das in der Regel: Hauptsache billig. Mit der Forderung nach mehr Tierschutz verträgt sich das nicht. Der Handel reagiert auf Kundenwünsche durchaus sensibel: So lehnt etwa Aldi Süd schon seit 2017 Fleisch von kastrierten Tieren ab, es sei denn, es handelt sich um Bioware. Führende Handelsketten haben sich mittlerweile zur Immunokastration als Alternative bekannt. Welches Geschlecht das Tier hat, ob und wie es kastriert wurde, erfährt der Kunde im Laden aber nicht. Und: Nur die Edelteile vom Schwein lassen sich hier vermarkten, der größere Teil des Tiers wird ins Ausland exportiert. Ein wichtiger Abnehmer ist Asien. Dort werde Fleisch von geimpften Tieren nicht akzeptiert, argumentiert Großschlachter Tönnies.

Von unserer Redakteurin Nicole Mieding