Brüssel

Die Wolke, die es in Frankreich nicht geben durfte

Foto: UNSCEAR

Die Wetterfee des französischen Fernsehsenders Antenne 2 gab sich an diesem Abend des 30. April 1986 ganz besonders viel Mühe, um das Azorenhoch zu erklären. Ausführlich beschrieb Brigitte Simonetta vier Tage nach der Katstrophe von Tschernobyl, wie dieses Gebiet zusammen mit einem Tief über Sardinien dafür sorgt, dass der Wind die Wolke in Richtung Italien, Jugoslawien und Österreich schicken würde. Zur optischen Verstärkung hatte die Redaktion an der französischen Grenze ein grelles Stoppschild eingefügt, was den Menschen sagen sollte: Die Radioaktivität ist überall, nur nicht in Frankreich.

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Von unserem Brüsseler Korrespondenten Detlef Drewes

Das war die sichtbare Untermalung der Staatslüge, die damals begann und die Pierre Pellerin, der Leiter des staatlichen Strahlenschutzservices SCPRI, zuvor auch noch sachlich begründet hatte: In der Bretagne sollen demnach vier Tage nach dem geschmolzenen Reaktorkern im Kernkraftwerk Tschernobyl gerade einmal 25 Becquerel Radioaktivität pro Quadratmeter gemessen worden sein, im Osten lediglich 500. Fazit: „Die öffentliche Gesundheit ist vom Unfall absolut nicht bedroht.“ Schutzmaßnahmen für Aktivitäten im Freien seien nicht nötig.

Erst 2005 reichte das inzwischen neu gegründete Strahlenschutzinstitut Karten nach, die zeigten, wie es wirklich war: So hatten 1986 die Messwerte des abgelagerten Cäsium-137 die Marke von 20 000 Becquerel überstiegen. Vereinzelt war der französische Boden sogar mit 40 000 Becquerel verstrahlt. Aber in einem Land, dass zum Zeitpunkt der Kernschmelze des ukrainischen Reaktors selbst 34 Atommeiler betrieb und somit zu den größten Kernenergieproduzenten zählte, durfte die Wahrheit nicht an die Öffentlichkeit kommen.

Unfähiges Krisenmanagement der Regierung unter Mitterrand

Die „Tschernobyl-Lüge“ brach in Frankreich erst zusammen, als Mitte Mai 1986 die ersten Kritiker offen auftraten und vor allem auf die in Deutschland ergriffenen Schutzmaßnahmen des Bundes und der Länder verwiesen. Man schuf eine zentrale Koordinierungsstelle, um das erkennbar unfähige Krisenmanagement der Regierung von Staatspräsident François Mitterrand zu ersetzen.


Doch Aufklärung blieb schwer. Die französische Atompolitik war immer Sache des Zentralstaats. Und der baute seit den 50er-Jahren, als Präsident Charles de Gaulle die zivile Nutzung der Atomkraft ausgerufen hatte, systematisch an seiner Strategie, der zufolge Kernenergie ein Schlüssel für die wirtschaftliche Stärke und Autonomie des Landes sei. Widerstand oder gar Anti-AKW-Kämpfer gab es nur verstreut im linken Lager. Frankreich lebte mit einem breiten nuklearen Konsens in der Gesellschaft, der auch nicht durch die Tatsache erschüttert wurde, dass man mehrere Reaktoren der Tschernobyl-Bauart betrieb.

In Frankreich wurden die Gefahren systematisch kleingeredet

Um die Öffentlichkeit alarmieren zu können, fehlten darüber hinaus Bilder der Katastrophe und jedes Bewusstsein über die Gefährlichkeit von radioaktiver Strahlung. Während in der Bundesrepublik bereits wöchentlich lange Listen von Lebensmitteln und ihrer Strahlenwerte veröffentlicht wurden, zerredeten Frankreichs Medien noch jedes Risiko und ließen ihre Kommentatoren stets vor der Kulisse einheimischer Atomanlagen auftreten. Die Botschaft: Tschernobyl ist ein sowjetisches Problem. Französische Meiler sind sicher – das sollte die einheimische Industrie in der Krise als verlässliche Alternative darstellen.

Tatkräftige Versuche, diese tödliche Strategie zu entlarven, datieren aus den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts. 2001 erhob die inzwischen unabhängige Strahlenschutzkommission mit der „Französischen Vereinigung der Schilddrüsenkranken“ Klage wegen „mangelhaften Schutzes der Bevölkerung vor dem radioaktiven Niederschlag, der dem Tschernobyl-Unfall folgte“. Die zuständige Untersuchungsrichterin Marie-Odile Bertella-Geffroy ließ Häuser und Wohnungen ehemaliger Verantwortlicher durchsuchen. 2005 legte sie einen Bericht vor, in dem sie dem Staat und seinen Behörden ein miserables Zeugnis ausstellte: Die verantwortlichen Stellen hatten bewusst gelogen.

Dabei war Frankreich keineswegs allein. Auch die europäische Ebene reagierte langsam. Zwar empfahl die Europäische Kommission unter ihrem Präsidenten Jacques Delors schon am 6. Mai 1986 Grenzwerte für Jod-131 von 500 Becquerel pro Liter Milch und 350 Becquerel je Kilo Obst und Gemüse. Doch da hatten deutsche Bundesländer wie Hessen bereits einen Alarmwert bei 20 Becquerel gesetzt. Es dauerte Wochen und Monate, ehe Paris und die EU sich eingestehen mussten, die wahren Belastungen für die Bevölkerung unterschätzt zu haben.

Tschernobyl ist in Frankreich nicht vergessen. An den Jahrestagen der Katastrophe in der Ukraine, aber auch der Kernschmelze in Fukushima bricht die Auseinandersetzung erneut auf – für einen politischen Kurswechsel in der Energiepolitik wie in Deutschland reichte es bei unserem Nachbarn allerdings bis heute nicht.

Mehr Bilder und Berichte zur Atomkatastrophe in Tschernobyl im Internet unter der Adresse ku-rz.de/tschernobyl