Kabul

Die Radlerinnen von Kabul

Die Radlerinnen von Kabul Foto: dpa

Eckig und schnell laufen die Mädchen, sie rempeln sich laut lachend an oder springen ein paar Schritte. Sie tragen Kopftücher, aber ihre bunte Sportbekleidung sitzt eng. In Afghanistan, wo Mädchen lernen, in der Öffentlichkeit langsam und gleitend zu gehen, weil sonst Brüste und Po so unziemlich wackeln, ziehen die Mädchen vom nationalen Rennradteam Blicke auf sich. Manche sind neugierig und amüsiert, andere skeptisch, sogar hasserfüllt.

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Von Christine-Felice Röhrs

In Afghanistan fahren Mädchen aber auch normalerweise nicht Rennrad. Eigentlich fahren sie nicht mal ganz normale Fahrräder, denn da muss man ja mit gespreizten Beinen sitzen. Das gehört sich nicht. Wer als Frau auf einem Rad fährt, ist normalerweise Passagier. Hinten drauf und die Beine im Damensitz zur Seite. Die weibliche Rennradmannschaft ist wohl eine der seltsamsten Blüten, die die Liberalisierung im Land seit dem Sturz der Talibanherrschaft 2001 getrieben hat.

Und ihre Geschichte gleicht vielen anderen in dem Staat, der von Gewalt und Machtkämpfen erschüttert wird. 15 Jahre nach Beginn der internationalen Intervention, an der auch Deutschland beteiligt ist, wird Regierungen heute das Scheitern viel größerer Projekte – oft in Milliardenhöhe – vorgehalten.

„Ich will ein Vorbild für afghanische Mädchen sein“, sagt Massoma Alisada, die Teamchefin, eine ernste junge Frau. In der afghanischen Hauptstadt Kabul steht ein Trainingstag bevor. Das Team soll auf Straßenschleifen vor Kabul Sprints üben. Alisada schiebt ihr Rad vom Hof hinunter in eine belebte Altstadtstraße. Männer und Jungen bleiben stehen und starren. Alisada schaut eisig zurück.

Frauen werden auf den Straßen von Kabul täglich belästigt, erzählt sie. Es gebe kein Entkommen, im Sammeltaxi oder beim Warten auf den Bruder, der sie nach Hause begleitet. Aber wenn es normaler wird, Rad zu fahren, dann muss kein Mädchen mehr auf irgendwen warten, sagt Alisada. Für sie ist das Rad ein Vehikel für Frauenrechte.

Seitdem das Team 2011 gegründet wurde, hat es Schlagzeilen gemacht. Acht bis zehn Mädchen und junge Frauen sind in der Kerntruppe, zwischen 16 und 21 Jahre alt. Als Wegbereiter wurden sie vorgestellt, als Pionierinnen der Emanzipation afghanischer Frauen. Die Olympischen Spiele 2016 waren ihr Ziel, so schrieben die internationalen Medien. Aber Olympia in Rio hat mittlerweile ohne sie stattgefunden. In den vergangenen zwei Jahren ist es stiller und stiller geworden um das Team. Hürden türmen sich auf. Es ist eine Gemengelage, die deutlich macht, wie schwer es ist, Wegebereiter zu sein in Afghanistan, vor allem als Frau. Die Probleme haben mit Sicherheit zu tun, mit der Wiederkehr der radikalislamischen Taliban und mit Korruptionsvorwürfen.

Ein Knackpunkt ist der Trainer. Abdul Sadik Sadiki (62), ein kleiner Mann mit hoher Stirn und braun gebranntem Gesicht, ist die treibende Kraft hinter dem Nationalteam. „Ein Gehirn wie meines gibt es nicht noch mal im Land“, prahlt er. „Was ich übers Radfahren hier weiß, weiß keiner.“ Seit 27 Jahren fährt er Rad in Afghanistan, hat an den wenigen Rennen teilgenommen, viele gewonnen. Sadiki ist aber auch das große Problem des Teams. Kritiker sagen, dass ihm das internationale Interesse zu Kopf gestiegen ist. Die Flut der Geschenke für ihn und das Team. Eine schlechte Mischung in Afghanistan, wo es immer noch keine Mechanismen gegen die allgegenwärtige Korruption gibt.

Sadiki hat die Mannschaft – und sich selbst – geschickt vermarktet. Er konnte gut mit den Medien. Und wohl weniger gut mit dem Geld. Ein Hauptsponsor, die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Mountain 2 Mountain, hat ihm 2016 das Vertrauen entzogen. Bei einem Gespräch im Mai sagt die Chefin der Organisation, Shannon Galpin, dass Rennräder und andere Ausstattung verschwunden sind – und die Mädchen seit eineinhalb Jahren keine internationalen Rennen mehr gefahren sind, obwohl sie Geld für Tickets geschickt hat. Stattdessen „gurken sie in Kabul herum und bleiben auf Amateurniveau hängen“.

Der Trainer bestreitet alles. Aber Galpin macht eine Kampagne aus ihrer Enttäuschung. Sie spricht bei Botschaften vor und beschwört sie, dem Trainer nichts mehr zu geben. Seitdem hängt alles in der Luft. Galpin, die über die Jahre einige der Sportlerinnen eng begleitet hat, meldet genau wie Trainer Sadiki Besitzansprüche auf die Mädchen an. Galpin plant Auslandstrainings, um sie Sadiki zu entziehen und sie „professionellen Bedingungen auszusetzen“.

Doch dann laufen während eines Turniers in Frankreich Ende Mai zwei der Sportlerinnen davon, um in Europa Asyl zu beantragen. „Natürlich kann ich jetzt alle Pläne für Trainingslager in den USA oder Europa vergessen“, schreibt Galpin. „Ich kriege ja keine Visa mehr.“ Teamchefin Massoma Alisada hatte sich bei dem französischen Turnier für ein Rennen in Australien qualifiziert. Das fand am 4. September statt – ohne sie. Alisada ist tief enttäuscht. Das Olympische Komitee habe mit den Tickets helfen sollen, sagt sie, aber es nie getan. Vom afghanischen Olympischen Komitee ist wohl auch sonst keine Hilfe zu erwarten. Es herrscht noch mehr Chaos. Nach gescheiterten Wahlen gibt es dort seit Monaten zwei Chefs – den alten und den neuen. Es gibt nun auch zwei Rennradteams der Frauen.

Wieso die Mädchen und Frauen trotz allem noch weitermachen? Für einige scheint das Radfahren eher ein Hobby zu sein, das ein bisschen Freiheit bietet. Teamchefin Massoma Alisada sieht es anders. Einige Monate nach dem ersten Treffen an jenem Trainingstag im Frühling erzählt sie, wie enttäuschend die vergangenen Monate waren. Aber sie sagt auch: „Ich brauche keine internationale Karriere. Ich bin hier, um das Radfahren unter afghanischen Mädchen zu fördern. Und wenn es da Probleme und Hürden gibt und ich aufgebe – was werden diese Mädchen dann von mir lernen?“

Woher ohne Galpins Geld Ausrüstung oder Tickets für Rennen herkommen sollen, ist unklar. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich. Und die Angst vor den Taliban, die ein gefährliches Comeback hinlegen und vielerorts ihre engen Moralvorstellungen wieder neu einpflanzen, nimmt zu. Die Keime der Liberalisierung in der Gesellschaft, die vor allem Frauen geholfen haben, drohen Stück für Stück einzugehen.

Andere hat es schon getroffen: Die Cricket-Nationalmannschaft der Frauen existiert nicht mehr, und die Fußball-Nationalmannschaft kämpft ums Überleben. Es gab Geldprobleme oder Beschwerden aus konservativen Kreisen, die finden, dass Frauensport der afghanischen Kultur oder dem Islam widerspricht. Da waren Mädchen, die geheiratet haben und dann auf Wunsch der Ehemänner nicht mehr weitermachen durften, und Sportlerinnen, die ins Ausland fliehen mussten vor Drohungen der Taliban. Die Mädchen des Rennradteams wollen weiter auf den Straßenschleifen außerhalb von Kabul ihre Sprints üben. Ob man sie Nationalmannschaft nennen kann, das ist eine andere Frage