Karlsruhe

Die CDU muss mehr Demokratie wagen

Kann die CDU noch die Mitte der Gesellschaft ansprechen? Das ist eine zentrale Frage beim Parteitag der Christdemokraten in Karlsruhe. Sowohl die protestierenden Bürger in Stuttgart als auch die konservative Stammwählerschaft setzen die Partei unter Druck.
 
Kann die CDU noch die Mitte der Gesellschaft ansprechen? Das ist eine zentrale Frage beim Parteitag der Christdemokraten in Karlsruhe. Sowohl die protestierenden Bürger in Stuttgart als auch die konservative Stammwählerschaft setzen die Partei unter Druck.   Foto: dpa

Verkehrte Welt: Früher galt das Wort „konservativ“ bei den Grünen als Schimpfwort. Meist wurden mit der Vokabel Christdemokraten und Christsoziale angegriffen, die das Rad der Geschichte angeblich anhalten oder gar zurückdrehen wollten. Wenn sich die CDU heute in Karlsruhe zu ihrem zweitägigen Parteitag versammelt, dann blicken nicht wenige Delegierte mit Zorn in das 80 Kilometer entfernte Stuttgart.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Karlsruhe. Verkehrte Welt: Früher galt das Wort „konservativ“ bei den Grünen als Schimpfwort. Meist wurden mit der Vokabel Christdemokraten und Christsoziale angegriffen, die das Rad der Geschichte angeblich anhalten oder gar zurückdrehen wollten.

Wenn sich die CDU heute in Karlsruhe zu ihrem zweitägigen Parteitag versammelt, dann blicken nicht wenige Delegierte mit Zorn in das 80 Kilometer entfernte Stuttgart. Denn dort gedeiht seit einigen Monaten eine Volksbewegung gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21, und viele Christdemokraten versehen deren Vertreter mit den Schlagworten fortschrittsfeindlich und konservativ. „Konservativ“ als neues Schimpfwort der CDU. Erstaunlich.

An die Spitze dieser Bewegung haben sich die Grünen gesetzt, die sich bei den Demoskopen nicht nur Schritt für Schritt an die bei 30 Prozent dümpelnde CDU annähern. Künast und Co. können besonders im Schwabenländle auch immer mehr frühere wertkonservative Wähler der Union für sich gewinnen. Diese scheinen von der Ignoranz ihrer früheren politischen Heimat gegenüber Volkes Willen schwer enttäuscht zu sein. Da hilft es wenig, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus mittlerweile am Runden Schlichtungstisch sitzt, dass Kanzlerin und CDU-Parteichefin Angela Merkel die Gespräche lobt oder dass sich die rheinland-pfälzische Landeschefin Julia Klöckner unterdessen – getrieben von den politischen Konkurrenten – für mehr Bürgerbeteiligung einsetzt.

Aufbegehren der Bevölkerung

Stuttgart 21 wird auch beim CDU-Parteitag seine Spuren hinterlassen. Die Christdemokraten müssen Antworten auf das wachsende Aufbegehren der Bevölkerung gegen ihre Projekte finden – ob es um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke oder eben Stuttgart 21 geht. Die CDU wird über kurz und lang mehr Demokratie wagen müssen. Denn sollte die Unzufriedenheit der Bürger mit der Regierung trotz des Wirtschaftsaufschwungs und einer möglichen Kabinettsumbildung bis zum Frühjahr anhalten, dann könnte der von Merkel zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 stilisierte Urnengang in Baden-Württemberg zur Schicksalswahl für Schwarz-Gelb werden. Trotz aller Beteuerungen: Eine Niederlage im Kernland der CDU würde die Kanzlerin ähnlich ins Wanken bringen wie ihren Vorgänger Gerhard Schröder im Jahr 2005, als die SPD ihr Stammland NRW verlor.

Alle Zeichen vor dem Parteitag sprechen aber dafür, dass Merkel darauf setzt, dass sich die Stimmung bis zum Frühjahr dreht. Der Parteitag könnte sogar zur Provokation für die Gegner des Milliardenprojekts werden. Denn der Kreisverband Stuttgart hat beantragt, dass sich die Bundespartei ausdrücklich zu dem umstrittenen Vorhaben der Bahn bekennt. Zwar hat Merkel dies überraschend bereits im September getan. Doch ein klares Votum des Parteitags könnte weiteres Öl ins Feuer kippen.

So kurios es klingen mag: Mehr Demokratie wagen muss die CDU auch, um ihre konservativen Stammwähler zu binden. Dabei geht es um die Kollateralschäden, die durch Merkels Modernisierungskurs entstanden sind. Zwar ist es der Parteichefin etwa durch eine moderne Frauen- und Familienpolitik – symbolisiert durch Ursula von der Leyen und Kristina Schröder – gelungen, bei Wählergruppen in den Städten, bei Frauen, Berufstätigen und auch bei Ostdeutschen zu punkten. Doch auf der Strecke geblieben sind christlich orientierte, wertkonservative und solche Wähler, die auf wirtschaftspolitische Inhalte setzen. 2009 wanderten viele von ihnen noch zur FDP ab. Doch Wahlforscher sind überzeugt, dass die CDU beim Wahlmarathon 2011 mit Urnengängen in sechs Ländern darum kämpfen muss, dass aus Stamm- keine Nichtwähler werden.

Aussterben der Konservativen

Der Verlust der Stammwählerschaft geht einher mit einem Aussterben der Protagonisten dieser Klientel. Von Friedrich Merz bis Roland Koch sind viele frühere Leitwölfe auch am System Merkel gescheitert oder haben entnervt das Handtuch geworfen. Die Parteichefin muss aufpassen, dass daraus nicht ein System Kohl wird, das nicht nur innerparteilich, sondern auch in der Gesellschaft zu einer Erstarrung geführt hat.

Merkel, die Physikerin der Macht, wird bereits erkannt haben, dass in der CDU etwas aus der Balance gerät. Auch deshalb hat sie sich wohl so klar gegen die Gentests bei Embryonen ausgesprochen. Doch Lippenbekenntnisse wie diese, die der Parteichefin nicht wirklich wehtun, werden nicht reichen. Sie wird nicht umhinkommen, den Konservativen auch personell in gewisser Weise entgegenzukommen. Will heißen: Sie wird mehr als von ihr geduldete und inthronisierte Kronprinzen wie Norbert Röttgen oder Ursula von der Leyen neben sich zulassen müssen. Wie hat es der Wahlforscher Richard Hilmer so schön ausgedrückt: „Eine Volkspartei wie die CDU muss natürlich stark ausgeprägte Flügel haben. Sie sollte ein Zentrum haben. Ansonsten, das kennt man aus der Vogelwelt, wird das Ganze unrund und eigentlich nicht lebensfähig.“ Derzeit lahmt der rechte Flügel stark.

Von unserem Redakteur Christian Kunst