Neuwied

Der lange Weg des Lothar Giersch

Lothar Giersch: Fluchthilfe mit gefälschten Ausweisen.
Lothar Giersch: Fluchthilfe mit gefälschten Ausweisen. Foto: Dietmar Telser

Dem Neuwieder Lothar Giersch gelang vor 40 Jahren mit einem einfachen Trick die Flucht aus der DDR. Danach hat er 25 Bekannte in den Westen geschleust.

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Neuwied – In Zelle 105 steht ein Email-Kübel mit Kalk. Die grüne Ölfarbe an der Wand ist abgeplatzt. Durch das kleine Fenster aus doppelten Glassteinen dringt kaum Licht. Es gibt einen Spalt mit einer schmalen hölzernen Luke, die sich öffnen lässt, damit ein wenig frische Luft in das Verlies strömt. Sie haben dem Schüler Lothar Giersch eine Zahnbürste hingelegt und einen Chlorodont-Stein, von dem man mit Wasser Zahnpasta abreiben kann. Der 18 Jahre alte Lothar Giersch wird am 14. August 1961 um 16 Uhr zum ersten Mal aus seiner Zelle zum Verhör gebracht. Sie wollen wissen, weshalb er sich in der Nähe der Grenze am Potsdamer Platz aufgehalten hat, sie möchten mehr über die katholische Jugendgruppe erfahren, mit der er gerade in einem Ferienlager war, sie fragen nach einem Pater, dessen Telefonnummer sie bei Giersch gefunden haben.

Es ist nicht die letzte Befragung, aber nach zwei Tagen weiß er immer noch nicht, weshalb er im Stasigefängnis sitzt. Einmal fragt er, weshalb er festgehalten wird, und erwähnt das Völkerrecht. „Was Recht ist, bestimmen wir“, ist die Antwort. Abends liegt Giersch auf der Pritsche und sagt sich: „Du musst hier raus, in diesem Staat willst du nicht alt werden.“ Drei Tage nachdem die Volkspolizei in Berlin Lothar Giersch ohne Grund festgenommen hat, wird er aus dem Gefängnis entlassen. Er geht durch die eisenbeschlagene Tür und bricht in Tränen aus.

Treffen in Gierschs Wohnung

Von nun an lassen ihn die Gedanken an eine Flucht nicht mehr los. Er macht sein Abitur, findet Arbeit im Großhandel, beginnt ein Theologiestudium, bricht es wieder ab und fängt als Einkäufer in der Genossenschaft für Sattler und Tapezierer an. Giersch bezieht eine kleine Bude in einem Hinterhaus. Seit dem Katholikentag 1958 gibt es einen regen Austausch zwischen den Gläubigen in Ost und West. Gierschs Wohnung in Ostberlin wird zum Treffpunkt für Studierende aus Mainz, Münster und Freiburg. Zu den Besuchern gehört auch ein durch die Grenze getrenntes Paar. Das Thema Flucht wird immer konkreter. Sie schmieden Pläne, wie sie über die Grenze kommen.

Giersch schließt sich ihnen an. Gemeinsam entwickeln sie eine Idee, so einfach wie genial: Mit ihren Fotos sollen Freunde in Westberlin einen Personalausweis beantragen. Damit in der Behörde keiner Verdacht schöpft, werden in der Bundesrepublik Leute gesucht, die ihnen ähneln. Die Personalausweise mit den falschen Fotos werden in Bulgarien übergeben. Von dort reisen die Flüchtlinge mit ihrem ostdeutschen Pass nach Rumänien aus. Da in Bulgarien die Ausweise nicht gestempelt werden, sondern nur ein Einlageblatt bekommen, können sie in Rumänien den westdeutschen Personalausweis vorzeigen – und sind Westdeutsche.

Lothar Giersch macht sich mit seiner Begleitung am 5. August 1971 auf den Weg. Aber schon am Flughafen Schönefeld gibt es Probleme. Der Zoll winkt sie zur Seite, in der Kontrollbude müssen sie sich nackt ausziehen. Auch ihre Kleidung wird durchsucht. Dann wollen Grenzsoldaten noch ihre Koffer sehen und nehmen die Gepäckscheine mit. Als die Maschine starten soll, warten sie immer noch auf die Soldaten. Die Flucht scheint zu Ende. Schließlich erhalten sie ihren Gepäckschein doch. Mit einer Stunde Verspätung startet die Maschine. Erst knapp 30 Jahre später wird Giersch den Grund für die Kontrolle erfahren. In seiner Stasiakte findet er einen anonymen Brief, der die Pläne der beiden zehn Tage vor Abflug detailliert beschreibt. Bis heute weiß Giersch nicht, wer geplaudert hat.

Probleme an der Grenze

Am Grenzübergang zu Rumänien wartet die nächste Hürde. Die Passabfertigung der beiden Länder wurde zusammengelegt, ein Tausch der Dokumente im Niemandsland ist nicht mehr möglich. Giersch kommt die Idee, einen Flug in das Nachbarland zu buchen. Das klappt. Die Ausweise zerkauen sie auf der Flugzeugtoilette, die Papphülle landet im Abfluss. Als Westdeutsche landen sie schließlich in Bukarest. Wenige Tage später schickt Giersch seinen Freunden aus Deutschland Postkarten mit der einzigen Aufschrift „Ps 17,30“, der Psalm: „Anrenne ich mit dir die Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“

Doch das Thema Flucht ist für ihn noch lange nicht beendet. Giersch führt sein Theologiestudium in Mainz weiter, aber auch an der Universität hält er ständig Ausschau nach Doppelgängern für Menschen, die wie er aus der DDR fliehen wollen. Rund 25 Bekannte holt er über Bulgarien nach Deutschland. Jede Flucht klappt. Auch weil niemand das Schlupfloch preisgibt. Selbst Gierschs Frau erfährt erst nach der Wende von den abenteuerlichen Wegen.

Als die Mauer fällt, sitzt Giersch in Neuwied vor dem Fernseher, er sieht die tanzenden Menschen, freut sich und ist trotzdem traurig. „Dieses ganze Leid“, denkt er, „alles nur, damit sich ein Regime an der Macht halten konnte.“

Nach dem Mauerfall beginnt für Giersch eine schwere Zeit. Immer wieder plagt ihn nun derselbe Traum: Er reist nach Berlin, verliert den Pass und darf nicht mehr zurück. Mit Herzklopfen wacht er dann auf und liegt die ganze Nacht wach. Je älter Giersch wird, desto schlimmer wird es. In den 90er-Jahren ist er noch Lehrer am Gymnasium. Manchmal steht er am Morgen vor seiner Klasse, hat die ganze Nacht nicht geschlafen, kann sich nicht konzentrieren und niemandem erklären, was ihn bewegt. Mit 57 Jahren geht Giersch deshalb in Pension.

Es geht ihm heute besser. Er ärgert sich noch immer über jene, die die dramatische Zeit so schnell vergessen haben. Er sagt, es ist die Ideologie, das Menschenbild des Regimes, das die Bürger in die Flucht getrieben hat. Er hat nur mehr selten Albträume, aber das Erlebte geht ihm immer noch nah. „So etwas kriegt man schlecht wieder weg“, sagt er.

Von unserem Redakteur Dietmar Telser