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Der Feind in meinem Ohr: So bekommen Betroffene den Tinnitus in den Griff

Von Nicole Mieding
Chronischer Tinnitus
Chronischer Tinnitus kann für die Betroffenen sehr belastend sein. Eine kognitive Verhaltenstherapie kann helfen. Foto: Steffen Kugler/dpa

Er summt, brummt, fiept: Ein impertinenter Begleiter, lästiger Mitbewohner – ein ungebetener Gast, der den überfälligen Heimweg einfach nicht antritt. Da fühlen sich selbst Menschen mit viel Geduld übermäßig strapaziert, werden dünnhäutig, die Nerven liegen blank – das kennt jeder, der unter einem ständigen Ohrgeräusch leidet, im Fachausdruck Tinnitus genannt. Aber was tun, wenn man ihn aus dem eigenen Kopf nicht so einfach rauswerfen kann? Anfreunden, rät der Tinnitus-Spezialist Dr. Frank Matthias Rudolph, der in seiner Fachabteilung an der Mittelrheinklinik in Boppard Patienten mit chronischem Tinnitus zu einem entspannten, freudvolleren Leben verhilft.

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Für alle, die das Problem nicht kennen: Was ist ein Tinnitus? Können Sie vielleicht mal einen vorsummen?

(lacht) Also erst einmal: Der Begriff kommt aus dem Lateinischen von „tinnere“, klingeln, und umfasst im Prinzip alle Arten von Ohr- und auch Kopfgeräuschen, die nicht durch ein von außen auftretendes Schallereignis erzeugt sind. Der Patient sagt: „Ich höre was, was du nicht hörst“ – da ist aber gar keine Tonquelle. Das kann ein Summen sein, ein Brummen, ein Piepton, auch ein pulssynchrones Ohrgeräusch (imitiert ein Geräusch wie beim Abfeuern einer Batterie Leuchtraketen), da gibt es ganz viele unterschiedliche.

Wie kann ich selbst herausfinden, ob das, was ich höre, ein Tinnitus ist oder etwas anderes?

In dem Moment, in dem Sie ein Geräusch hören, und drum herum ist keine Geräuschquelle, ist die Diagnose schon gestellt: Das ist Tinnitus.

Wie entsteht das Problem? Gibt es Ursachen, die einen Tinnitus begünstigen?

Letztlich ist es eine Störung im Hörsystem, dieser Ton wird im Gehirn selbst erzeugt. Die Ursachen sind vielfältig, klassisch ist sicherlich alles, was mit Stress zu tun hat, meist in Kombination mit einer zugrunde liegenden Hörstörung. Das betrifft 80 Prozent der Patienten. Die meisten von denen wissen davon allerdings nichts.

Wo finden Betroffene Erste Hilfe?

Der erste Ansprechpartner ist immer der HNO-Arzt oder zumindest der Hörgeräteakustiker.

Sie sprachen von Stress: Tritt das Phänomen in der Pandemie gehäufter auf als zuvor?

Dazu gibt es noch keine wissenschaftlichen Studien, aber ich würde die Frage andersrum beantworten wollen: Nur ungefähr die Hälfte der Menschen, die einen Tinnitus haben, leidet auch daran. Die andere hat einen, kommt aber gut damit zurecht. Zu der gehöre ich. Ich habe beidseitig eine mittelgradige Schwerhörigkeit im Hochtonbereich und besonders auf dem rechten Ohr einen Hochton-Tinnitus. Wenn wir jetzt darüber reden, nehme ich ihn auch wahr, aber 80 Prozent des Tages merke ich den gar nicht. Was wir nun feststellen, ist, dass die Rate derer, die einen Tinnitus haben und damit nicht zurechtkommen, ansteigt. Weil die Menschen mehr im Lockdown sind, weniger Hörablenkungen haben, weniger angenehme Aktivitäten …

War Ihre eigene Betroffenheit das Motiv, sich fachlich mit dem Tinnitus zu beschäftigen?

Das ist leider erst im Laufe der Zeit dazugekommen. Ich engagiere mich seit mehr als 20 Jahren für die Deutsche Tinnitus-Liga. In meinem engen Familienkreis hatte das jemand, wusste damals nicht, was das ist, und wir waren alle ganz verzweifelt. Ich studierte damals Medizin und geriet so an die Tinnitus-Liga. Das ist eine große Selbsthilfeorganisation, da findet man erste Ansprechpartner, kann Rat und Hilfe suchen, dort sind zudem auch Betroffene, die helfen einem. Seit zehn Jahren bin ich nun im wissenschaftlichen Beirat und seit einem Jahr der Vorstandsvorsitzende.

Lässt sich dem Tinnitus irgendwie vorbeugen: durch eine bestimmte Lebensweise, Ernährung, Art des Musikhörens oder Nichtmusikhörens ..?

Grundsätzlich hilft es immer, wenn man gut mit sich umgeht, Selbstfürsorge betreibt, die eigenen Bedürfnisse wahrnimmt, sich gut ernährt, ausreichend trinkt und sich vor übermäßigem Lärm schützt.

Die meisten Menschen hatten so ein Ohrgeräusch nach extremer Lärmbeeinträchtigung schon mal: nach einem lauten Knall, dem Besuch eines Rockkonzerts vielleicht. Wie lang darf ein solches Symptom denn andauern, und wann sollte ich einen Arzt aufsuchen?

Das kommt darauf an, ob begleitend ein Hörverlust auftritt, der sogenannte Hörsturz. Plötzlich auftretender Hörverlust mit oder ohne Tinnitus ist ein Eilfall. Man muss da nicht mit Blaulicht ins Krankenhaus. Aber wer morgens aufwacht, ein Ohr ist taub, und man hört schlecht, sollte das innerhalb von 24 Stunden von einem Arzt abklären lassen. Wer morgens mit einem Piepsen aufwacht, aber im Hören nicht beeinträchtigt ist, bleibt am besten erst mal gelassen. Bei mehr als 80 Prozent verschwindet der Tinnitus ganz von allein innerhalb von ein paar Stunden oder ein paar Tagen. Sollte er nach einigen Tagen immer noch da sein, sollte man ebenfalls zum Arzt gehen.

Wie sieht eine Tinnitus-Therapie aus, und wie lange dauert sie?

Im Prinzip gibt es drei Basisbausteine. Zuerst stellt sich die Frage nach dem Hörverlust: Liegt der vor, muss ich ihn ausgleichen mit einem Hörgerät. Der zweite Schritt ist die Beratung, um den Betroffenen aufzuklären und ihm Ängste zu nehmen, am besten im Rahmen einer Selbsthilfegruppe – bei kaum einem anderen Störungsbild ist die Wirkung wissenschaftlich so gut belegt. Der dritte Schritt führt zum Verhaltenstherapeuten. Dort lernt man Techniken zur Stressbewältigung, es geht um Themen wie Achtsamkeit, Aufmerksamkeitslenkung. Das reicht den meisten eigentlich aus. Dann gibt es aber noch eine Gruppe, bei der der Tinnitus für etwas anderes steht – für einen ungelösten Konflikt in der Partnerschaft, ein großes Problem am Arbeitsplatz oder anderes. Da geht es um eine Art Ersatzkriegsschauplatz, weil man sich mit der eigentlichen Problematik nicht beschäftigen will. Das läuft oft unbewusst ab, und da braucht man dann wirklich eine Psychotherapie. Wenn der Tinnitus sich auf das Erwerbsleben auswirkt, man nicht mehr schlafen, sich nicht konzentrieren kann, dünnhäutig wird, wäre auch eine stationäre psychosomatische Rehabilitation in einer auf Tinnitus spezialisierten Klinik zulasten der Deutschen Rentenversicherung sinnvoll. Da ist man dann mal fünf, sechs Wochen raus aus dem Geschehen und kann in einer anderen Atmosphäre therapiert werden. Unterm Strich muss man mit drei bis neun Monaten rechnen, je nachdem, wie ausgeprägt das Problem ist und ob es begleitende Störungen gibt. Es gibt nicht „den Tinnitus“, nicht „den Patienten“. Entsprechend muss die Therapie stets individuell abgestimmt sein.

Womit lassen sich die besten Erfolge erzielen?

Bis nach maximal drei Monaten sprechen wir von einem akuten Tinnitus. Da liegt die Wahrscheinlichkeit, dass er weggeht, bei rund 80 Prozent. Wenn das Problem länger andauert, sprechen wir von chronischem Tinnitus, der wird aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben. In diesen Fällen dreht sich die Therapie nicht mehr darum, den Tinnitus zum Verschwinden zu bringen. Jeder, der behauptet: „Ich mach Ihnen den Tinnitus weg“, ist ein Betrüger! Eine Menge Scharlatane ziehen Patienten damit das Geld aus der Tasche. Nach heutigem wissenschaftlichen Stand gibt es keine einzige Therapie, die den chronischen Tinnitus wieder zum Verschwinden bringt. Mit einer Kombination der drei Grundbausteine in der Therapie ist die Wahrscheinlichkeit, mit dem Tinnitus gut leben zu können, sehr hoch.

Therapieerfolg heißt also nicht automatisch, dass im Kopf wieder Stille herrscht, sondern auch, dass die Betroffenen lernen, sich abzulenken und mit ihrem Problem zu leben?

Gut, dass Sie das ansprechen! Tragen Sie vielleicht eine Brille, einen Ring oder eine Kette? Die zieht man morgens an und vergisst sie dann völlig. Erst wenn man darauf angesprochen wird und die Aufmerksamkeit darauf lenkt, merkt man, wie die Brille auf der Nase sitzt, am Ohr anliegt, die Uhr am Handgelenk schlackert. Elektrische Signale von der Haut melden diesen Druck den ganzen Tag über ans Gehirn. Aber weil das eine Fülle von unnützer Information ist, wird die von unserem Gehirn herausgefiltert. Genau das ist unser Ziel: Der Tinnitus bleibt, aber er wird nicht mehr bewusst wahrgenommen.

Wie verhindern Sie, dass die Menschen, denen Sie nicht helfen können, die Verzweiflung übermannt?

Das ist ja genau das Schöne: Wer lernt, mit dem Tinnitus zu leben, verzweifelt auch nicht daran! Viele sagen sogar: „Das ist mein Freund, der erinnert mich daran, wenn ich mich überfordere. Dann mache ich ein bisschen langsamer.“ So gesehen ist es gar nicht schlimm, dass wir den nicht wegmachen können. Er kann einen sogar schützen.

Von wie vielen Betroffenen sprechen wir denn?

Wir gehen von drei bis vier Millionen Menschen in Deutschland aus, die einen chronischen Tinnitus haben. Davon haben ungefähr eine bis 1,5 Millionen einen sogenannten dekompensierten Tinnitus, kommen also nicht mit ihm zurecht. Wobei das meist nicht so ist, dass Betroffene fest in einer dieser beiden Gruppen sind. Es kann durchaus sein, dass sie viele Jahre gut mit dem Tinnitus zurechtkommen. Dann lässt sich ihr Partner von ihnen scheiden, sie fallen in ein depressives Loch, und plötzlich wird der Tinnitus ganz laut im Stress. Ein Jahr weiter haben sie sich wieder beruhigt, ein neues Leben angefangen, sind vielleicht neu verliebt, und der Tinnitus ist wieder in den Hintergrund gerückt. Man ist praktisch lebenslänglich im Flow von dekompensiert zu kompensiert.

Das Gespräch führte Nicole Mieding

Weitere Informationen


Eine Datenbank mit Kliniken, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen für Betroffene finden sie auf Tinnitus-Selbsthilfe.org.
Tinnitus-Selbsthilfe.org. ist eine gemeinnützige Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Tinnitus, Hörsturz und Morbus Menière aus Lübeck.