Berlin

Der eigensinnige Pastor der Nation

gauck Foto: dpa

Im Sommer 1955 fühlte Joachim Gauck erstmals die Freiheit. Als 15-Jähriger verbrachte er mit einem Cousin aus der mecklenburgischen Provinz Wüstrow ein Wochenende in Paris, organisiert von einer Großmutter aus dem Saarland. Gauck und sein Kumpel sahen in einer Pariser Markthalle „eine überbordende Fülle von Blumen, Fischen, Obst und Gemüse“ und „barbusige Frauen“ auf den Titelseiten der Kiosk-Magazine.

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Sie kicherten über ein küssendes Pärchen auf der Champs-Élysée und tranken die erste Coca-Cola ihres Lebens. „Was für eine Welt“, notierte Gauck spätere in seinem Buch „Erinnerungen“. Von da an habe sich alles relativiert. Der Besuch in der Freiheit habe Tore geöffnet, „geografisch und mental“.

Erste Spuren hinterlassen

Gauck
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Heute, 52 Jahre später, ist der einstige DDR-Bürger Staatsoberhaupt im vereinigten Deutschland. Seit knapp 100 Tagen repräsentiert Gauck das Land. Und der 72-jährige Theologe aus dem Osten hat mit rhetorischer Strahlkraft, einem Gespür für Gesten und pointierten Positionen als Bundespräsident aller Deutschen Spuren hinterlassen. Gauck spitzte zu („Der Islam gehört nicht zu Deutschland“), ermahnte („Politik darf nicht dem globalen Marktgeschehen hinterherlaufen“) und lobte („Soldaten sind Mut-Bürger in Uniform“). Er hörte zu, redete und berührte mit emotionalen Geschichten aus seinem Leben. All das wirkt in einem politischen Umfeld, das von einer streitbaren Koalition und einer lähmenden europäischen Krise dominiert wird, erfrischend.

Schon der Start glückte. Ende Februar saß Gauck wie ein Schuljunge neben der Kanzlerin und den Mächtigen, die ihn nominiert hatten, in der Pressekonferenz. Gauck erzählte von dem Anruf Merkels, der ihn in einem Berliner Taxi erreichte, sprach von „der Verwirrung meiner Gefühle“ und entschuldigte sich, dass er „noch nicht einmal gewaschen“ sei. Der Eindruck: sympathisch und glaubwürdig. Inhaltlich blieb Gauck trotz aller Kritik, auch von der Bundeskanzlerin, seinem Leitthema, der Freiheit treu. Joachim Gauck, der in seiner vielleicht wichtigsten Predigt im Herbst 1989 in der Rostocker Marienkirche von „Menschen, die einfach weglaufen, weil sie nicht mehr hoffen“ erzählte und jene ermunterte, die ihrer Angst „Auf Wiedersehen sagen und den aufrechten Gang trainieren“, ist im Staatsamt Freiheitslehrer geblieben, ein Ermunterer für die Demokratie. In Stil und Ton der oberste Pastor der Nation.

Gauck will die Deutschen zu Freiheit „ermächtigen“. Bewusst nutzt er den in der Nazizeit missbrauchten Begriff. Sprachlich will sich Gauck nichts vorschreiben lassen. Seine erste Auslandsreise führte ihn, das Kind eines 1943 in Danzig stationierten Wehrmachtssoldaten, nach Polen. Dort beeindruckte der frisch gewählte Präsident mit einem zukunftsgerichteten Auftritt. Ein Rockfestival junger Deutscher und junger Polen, dachten sich der 72-Jährige und sein 60-jähriger Amtskollege Boris Komorowski aus. Die ersten Botschaften in den Medien waren gesetzt. In den Niederlanden hielt Gauck später als erster Deutscher die zentrale Rede am Tag der Befreiung. Demütig, bescheiden, aber auch wegweisend. Die Freiheit müsse zum Projekt Europas werden, mahnte er und kritisiert Europäer, die Freiheit „als politische oder ethische Beliebigkeit“ missverstünden. Als „bedeutender historischer Moment für Europa“ würdigten die Gastgeber hernach den Besuch Gaucks. Dabei hatte Gauck die schwierigste Reise noch vor sich: Israel.

Undiplomatisch, aufrichtig

Seine Vorgänger waren mit besonderen Reden und Gesten in Erinnerung geblieben. Gauck entschied sich gegen Diplomatie und für Aufrichtigkeit. „Wir Deutsche stehen an Israels Seite“, stellte Gauck klar. Aber das von Kanzlerin Merkel formulierte Existenzrecht Israels als Teil deutscher „Staatsräson“ könne „enorme Schwierigkeiten“ bringen, mahnte der Präsident. Damit zielte Gauck auf eine mögliche Beteiligung Deutschlands an einem bewaffneten Einsatz gegen den Iran. Die Debatte in der Heimat kochte, doch die Mehrheit zeigte Verständnis.

Zumal Gauck, als es darauf ankam, Gespür für die richtige Geste bewies. Nach einem erschütternden Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sollte Gauck einige Sätze in das Gedenkbuch schreiben. Er schrieb spontan: „Und steh zu dem Land, das hier derer gedenkt, die nicht leben durften.“

An anderer Stelle vergaloppierte sich Gauck allerdings, sprach von den Deutschen als „glückssüchtige Gesellschaft“, mischte sich in die innenpolitische Debatte über Öko-Subventionen ein und mahnte aus der Ferne das unabhängige Bundesverfassungsgericht, die Euro-Beschlüsse der Regierungen nicht zu „konterkarieren“. Ein Fauxpas. Aber warum sollten ihm nicht auch Anfängerfehler unterlaufen, kommentierte Gauck später lapidar.