Cem Özdemir im RZ-Interview: Auch Deutschland spricht nicht vom Völkermord

Ein Bild des Elends und der Trauer: Eine armenische Frau, deren Mann ermordet wurde, sucht mit ihren Kindern Hilfe bei Missionaren. Das Volk der Armenier ist über Jahrzehnte verfolgt und vertrieben worden, viele Hunderttausend leben heute in aller Welt in der Diaspora. Sie fordern, dass die Verbrechen von damals anerkannt werden.
Ein Bild des Elends und der Trauer: Eine armenische Frau, deren Mann ermordet wurde, sucht mit ihren Kindern Hilfe bei Missionaren. Das Volk der Armenier ist über Jahrzehnte verfolgt und vertrieben worden, viele Hunderttausend leben heute in aller Welt in der Diaspora. Sie fordern, dass die Verbrechen von damals anerkannt werden. Foto: gemeinfrei

Der Völkermord an den Armeniern zählt zu den weniger bekannten Tragödien des vergangenen Jahrhunderts. Am 24. April vor 100 Jahren begannen die Deportationen und Massentötungen Hunderttausender durch die Türken – und die Europäer schauten weg. Der türkischstämmige Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir fordert im Interview, den Völkermord anzuerkennen, auch in Deutschland:

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Welchen Stellenwert hat der Gedenktag der Armenier in Europa?

Immerhin so einen großen, dass der französische Präsident François Hollande und mit ihm viele andere Staats- und Regierungschefs an diesem Tag in Eriwan sein werden, um des Beginns des Völkermords an den Armeniern zu gedenken. Die Bundesregierung zieht es vor, sich dort mit einem Staatssekretär vertreten zu lassen.

Wie kommt das in Armenien an?

Die Bundesregierung drückt sich, den Völkermord beim Namen zu nennen. Sie kuscht stattdessen vor dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und spricht von Massakern und Deportationen. In ihrem Antrag zur Debatte im Bundestag am 24. April hat die Große Koalition das Wort „Völkermord“ wieder herausgestrichen. Uns Grünen kommt es darauf an, dass nun wenigstens im

Plenum angemessen und ehrlich über das Thema debattiert wird, auch über die Mitverantwortung des deutschen Kaiserreichs, das damals enger Verbündeter des Osmanischen Reiches war. Mein Eindruck ist aber, dass die Kollegen von Union und SPD da ganz schön unter Druck stehen.

Was wäre denn angemessen?

Cem Özdemir
Cem Özdemir
Foto: picture alliance

Angemessen wäre, sich zum 100. Jahrestag endlich ehrlich zu machen und von einem Genozid zu sprechen. Es gab ganz klar die Absicht, das armenische Volk in den Tod zu schicken. Wobei auch die christlichen Assyrer zu Opfern geworden sind. Wir müssen der Türkei als unserem Partner klarmachen, dass kein Land geschwächt daraus hervorgeht, wenn es sich seiner Vergangenheit offen stellt. Im Gegenteil: Deutschland ist ein Beispiel dafür. Wenn man bedenkt, dass es sich bei den Armeniern um das älteste christliche Volk der Welt handelt und bei den Assyrern um diejenigen, die bis heute Aramäisch, die Sprache Christi, sprechen, frage ich mich, wie CDU-Fraktionschef Volker Kauder sich weiter als jemand feiern lassen will, der sich für die Christen in der Welt einsetzt, während er den Genozid nicht anerkennt.

Warum haben Sie ihn nicht anerkannt, als Sie mitregiert haben?

Weil damals alle gehofft haben, so den damaligen Reformprozess in Ankara zu unterstützen. Davon ist unter Erdogan nichts mehr übrig. Heute ist eine Rücksichtnahme auf die regierende AKP eine Rücksichtnahme auf die Falschen. Die türkische Zivilgesellschaft ist da weiter und spricht – entgegen der offiziellen Lesart – offen über den Genozid.

Erdogan hat stattdessen eine Gedenkveranstaltung für eine ruhmreiche Schlacht der Türken angeordnet. Was ist das für ein Signal?

Das ist eine Geschmacklosigkeit, für die es keine Worte gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich um eine Geschichtsklitterung handelt. Genau diese Schlacht um die Dardanellen war eine, bei der Armenier als osmanische Untertanen Seite an Seite mit türkischen und anderen Untertanen des zerfallenden Reiches mitgekämpft haben. Ich empfehle dem türkischen Staatspräsidenten die Lektüre des Buches über den für seine Tapferkeit dekorierten armenischen Hauptmann Sarkis Torosyan, dessen völlig unschuldige Familie zum Dank von den jungtürkischen Mördern wie ungezählte andere in den Tod deportiert worden ist. Es gibt also keine Flucht vor der Geschichte der Armenier, sie holt einen immer wieder ein, solange die offizielle Türkei vorzieht, die Augen zu schließen.

Noch ist es aber verboten, in der Türkei von Völkermord zu reden …

Ich habe selbst in der Türkei an Veranstaltungen teilgenommen, auf denen es offen um den Völkermord ging, und werde es auch demnächst wieder tun. Es gibt viele türkische Autoren, Journalisten und Wissenschaftler, die offen darüber reden oder publizieren. Dass wir in Deutschland auf die Falken in der Türkei Rücksicht nehmen, leuchtet mir nun wirklich nicht ein. Damit geben wir den Modernisierern einen kräftigen Schlag in den Nacken und kuschen vor den antieuropäischen Kräften. Auch dass wir der Debatte aus möglicher Angst vor Reaktionen der türkeistämmigen Deutschen aus dem Weg gehen, halte ich für falsch.

Was steckt denn dahinter?

Man hat Angst, dass sich daraus Restitutionsansprüche an Deutschland ableiten könnten, woran ich nicht glaube. Es wäre wichtiger, dass wir als damaliger wichtigster Verbündeter des Osmanischen Reiches und als Rechtsnachfolger des Kaiserreiches die Hand reichen und deutlich machen, dass wir beide – Türkei und Deutschland – für die Verbrechen in unserer jeweiligen Geschichte Verantwortung übernehmen müssen.

Was bedeutet die Nichtanerkennung für Armenien?

Das Land entwickelt sich immer mehr zu einer autoritären Gesellschaft. Die zarten Pflänzchen der Zivilgesellschaft sind einem immensen Druck ausgesetzt. Die antieuropäische und antiliberale Sprache von Herrn Putin ist dort auch zu hören. Mit jedem Tag, den die Grenze zur Türkei geschlossen bleibt, wird Armenien näher an Moskau rücken.

Das Gespräch führte Rena Lehmann