Rheinland-Pfalz

Bürgerkrieg: Letzte Zuflucht Ingelheim

Reise ins Ungewisse: Nun will sich Deutschland an der Aufnahme von Flüchtlingen stärker beteiligen.
Reise ins Ungewisse: Nun will sich Deutschland an der Aufnahme von Flüchtlingen stärker beteiligen. Foto: DPA

Geh, hat sein Vater gesagt, als er den Einberufungsbefehl in der Hand hielt, geh, du musst das Land verlassen. Dann hat George seinen Rucksack gepackt, ist im Schutz der Nacht in einen Wagen gestiegen, hat seine Heimatstadt Aleppo über Straßen, auf denen er keine Checkpoints fürchten musste, hinter sich gelassen,

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Rheinland-Pfalz – Geh, hat sein Vater gesagt, als er den Einberufungsbefehl in der Hand hielt, geh, du musst das Land verlassen. Dann hat George seinen Rucksack gepackt, ist im Schutz der Nacht in einen Wagen gestiegen, hat seine Heimatstadt Aleppo über Straßen, auf denen er keine Checkpoints fürchten musste, hinter sich gelassen

Von unserem Redakteur Dietmar Telser

Nach wenigen Stunden hat Goerge den kurdisch kontrollierten Norden erreicht, überquert die syrisch-türkische Grenze, fährt weiter nach Gaziantep und schließlich nach Antalya, wo er seinen Schlepper trifft und ihm die Hälfte seines Honorars ausbezahlt.

10 000 Euro wird George insgesamt bezahlen. Er sagt: „Geld kommt und geht. Das Leben aber ist alles.“ Er wird dafür ein Flugticket erhalten und einen gefälschten Pass. Mit dem Schlepper wird er in das Flugzeug steigen und später in Düsseldorf landen. „Blättere bloß nicht in dem Pass, als würdest du ihn das erste Mal sehen“, sagt der Schlepper vor der Passkontrolle und: „Schau nicht in die Luft, als würdest du den Blickkontakt mit den Kontrolleuren fürchten.“ In Düsseldorf wird ihn der Schlepper eine Woche lang in einer Wohnung verstecken.

Dann drückt er ihm eine Adresse in die Hand. Es ist die Aufnahmestelle in Trier. Rheinland-Pfalz ist eine gute Region, sagt er noch. Vier Wochen später wohnt George in der „Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende“ in Ingelheim. 1,6 Millionen Syrer sind weltweit bisher vor dem Bürgerkrieg geflohen. Nach Deutschland, so wie George, schaffen es nur die wenigsten.

In Rheinland-Pfalz wurden im vergangenen Jahr 528 neue Syrien-Flüchtlinge gezählt. Das ist, gemessen an der Gesamtverteilung der Bürgerkriegsflüchtlinge, wenig. Jordanien, das gerade zwei Millionen Einwohner mehr als Rheinland-Pfalz hat, beherbergt mehr als eine halbe Million Vertriebene aus Syrien. George ist 29 Jahre alt, Christ, er hat Wirtschaft studiert. Eigentlich wollte er seinen Master an der Universität von Aleppo abschließen, aber an der Hochschule gibt es schon seit Langem keinen regulären Unterricht mehr.

In Aleppo toben seit eineinhalb Jahren blutige Kämpfe. Die Frontlinie verschiebt sich ständig. Selbst für Einheimische ist es unmöglich, eine Übersicht zu behalten: dort die dschihadistischen Nusra-Kämpfer und die Freie Syrische Armee, auf der anderen Seite die Milizen und die Nationalarmee. Und manchmal kämpfen sie auch alle gegeneinander. Die Bewohner haben Leintücher über die Straßen gespannt, damit sie Scharfschützen nicht ins Visier nehmen können.

Es gibt tschetschenische Kämpfer, die auf alles schießen, was sich bewegt. Brot ist manchmal nicht zu bekommen. Wasser gab es erst vor kurzer Zeit für gleich fünf Tage nicht mehr. Trotzdem dürften Menschen wie George eigentlich nicht einreisen. Sie schaffen es dennoch. Viele, so wie er, mit gefälschten Pässen über den Luftweg, andere versuchen den Weg über das Land. Aber diese Routen sind riskant.

Mit der Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 wird geregelt, dass Flüchtlinge in das EU-Land abgeschoben werden, das sie auf ihrer Flucht zuerst betreten haben. Wer dennoch über einen dieser Wege in Deutschland landet, muss auf die Einschätzung der Behörden hoffen. Tatsächlich können Asylbewerber aus Syrien derzeit mit einer außergewöhnlich hohen Anerkennungsquote rechnen, schätzt Marie Weber, Asylreferentin von Amnesty International in Bad Kreuznach.

Das bedeutet: Die Syrien-Flüchtlinge können bis auf Widerruf in Deutschland bleiben. Und trotzdem können davon nur die profitieren, die das Geld für die Flucht auftreiben. Vor Kurzem hat Deutschland ein Pilotprojekt gestartet. 5000 Syrern soll es ermöglicht werden, ohne Risiko auf legalen Wegen nach Deutschland zu kommen. „Wir hoffen nun, dass auch weitere Länder aus Europa nachziehen“, sagt Stefan Telöken vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Rheinland-Pfalz wird davon 240 Flüchtlinge aufnehmen, im diesen Wochen sollen die ersten kommen. Die Zahl wird nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel berechnet, der Bevölkerung und Steuereinkommen der Länder berücksichtigt. Doch die Initiative findet nicht uneingeschränkten Applaus. Die Kriterien sind vage, bemängeln Flüchtlingsorganisationen. Es ist von humanitären Gründen die Rede und von einem Bezug zu Deutschland. Was das genau heißt, ist unklar.

Christen dürften wohl Muslimen bevorzugt werden. Auch wenn Telöken sagt: „Es wird kein Christenflüchtlingsprogramm.“ Und es gibt noch einen Punkt, der von Flüchtlingsorganisationen massiv kritisiert wird. Der Aufenthalt ist zunächst auf zwei Jahre begrenzt. „Was aber geschieht danach mit den Menschen?“, fragt Marie Weber von Amnesty International. Die Syrer können sich zudem für eine Aufnahme nur im Libanon bewerben.

Auch aus dem Grund, weil man weiß, dass es in den großen Lagern von Jordanien zu Unruhen kommen könnte, wenn nur eine kleine Gruppe Hilfe erhält. George wartet auf seine Anerkennung als Flüchtling. Bis dahin muss er in Ingelheim bleiben. Er sagt: „Ich weiß es zu schätzen, dass uns Deutschland gerade jetzt, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, Zuflucht gewährt.“

Neulich, sagt er, hat er ein älteres Paar auf Fahrrädern beobachtet. Sie waren auf einem Ausflug. Die Sonne schien, das Grün der Wiesen leuchtete, sie fuhren einträchtig die Straße entlang und mussten keine Scharfschützen und Kontrollen fürchten. „Dieses Gefühl“, sagt George, „ist unbezahlbar.“