London

Beten für den Machterhalt: Kommt Gordon Browns „Erwachen“ zu spät?

Gordon Browns Hände flattern über dem Pult. Sie umarmen das Publikum, zugleich teilen seine Fäuste Schläge gegen imaginäre Gegner aus. Seine Stimme bebt. „Ich bin der Sohn eines schottischen Pfarrers“, sagt der Labour-Vorsitzende vor 2500 Zuhörern in London. „Mein Vater hat mir beigebracht, dass es wichtigere Dinge gibt als das eigene Interesse. So lange Sie für Gerechtigkeit kämpfen, werden Sie in mir einen Freund, Partner und Bruder finden“. Dann explodiert der Saal im ekstatischen Beifall.

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Es war am Dienstag. Auf der Zielgeraden im vierwöchigen Wahlsprint hatte der trockene Premier plötzlich seine Leidenschaft entdeckt. Auf einmal stand seine Kampagne wieder unter Strom. Der Weg zu den Wählerherzen war offen. Alles schien möglich. Im Regierungslager werden sich heute viele dennoch fragen, ob Browns „Erwachen“ nicht zu spät gekommen war. Denn der konservative “Wind of Change” von David Cameron hat die Samen des Zweifels in den Herzen vieler Briten gesät. Sie sehen jetzt, dass es eine politische Alternative zu ihrer glanzlosen Mitte-Links-Regierung gibt. Und so könnte der Tag, an dem Großbritannien sein Parlament wählt, auch zum letzten Tag der 13-jährigen „New Labour“-Ära werden, die mit Tony Blairs „Erdrutschsieg“ am 1. Mai 1997 begonnen hatte.

Seit 8 Uhr MEZ können sich 44 Millionen wahlberechtigte Briten aus 4 149 Kandidaten ihre 650 Abgeordneten in Westminster aussuchen. Dabei steht für das Land noch mehr auf dem Spiel: Unter der Last des riesigen Haushaltsdefizits von zwölf Prozent, das jede Regierung zum Sparen verpflichten wird, entscheiden sich die Briten für einen der zwei Wege aus der schwersten Rezession seit 60 Jahren. Labour und die Liberaldemokraten unter Nick Clegg halten es für verfrüht, die staatliche Stimulierung der kriselnden Wirtschaft zu beenden. Sie wollen heftige Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben aufschieben, bis die Stabilität erreicht ist. Dagegen drängt Cameron an der Spitze der Konservativen darauf, bei der Bekämpfung des Defizits schon dieses Jahr kräftig auf die Ausgaben-Bremse zu treten.

Während alle drei großen Parteien im Parlament den Bürgern „Fairness“ und politische Reformen versprechen, bieten sie unterschiedliche Lösungen für die Probleme Einwanderung, Kriminalität und Gesundheitswesen an. Diese Themen haben in den drei „historischen“ Live-Fernsehdebatten eine wichtige Rolle gespielt. In den britischen TV-Duellen gab es keinen klaren Verlierer. Allerdings nutzte einer der Kandidaten sie zu einem Popularitätsschub bei den Wählern: Der 43-jährige Clegg schaffte es, durch seine direkte und freundliche Art die linksorientierten Libdems in einen potenziellen Koalitionspartner für Labour oder die Tories zu verwandeln. Die letzten Umfragen sahen seine Partei mit 28 Prozent gleichauf mit dem Regierungslager, während die Tories mit 35 Prozent vorne lagen.

In der „unvorhersehbarsten Wahl seit 30 Jahren“ (BBC) braucht Cameron 113 bis 118 zusätzliche Mandate, um alleine regieren zu können. Dazu müsste er jedoch den stärksten Wahl-Ruck seiner Partei seit 1931 erreichen. Beobachter halten auch Koalitionen der Tories mit den Libdems oder mit den nordirischen Unionisten für möglich. Ein drittes Modell sieht eine Allianz von Clegg mit Labour vor, in der der kleine Partner einen Teil der Ministerposten besetzen würde. In allen diesen Szenarien gibt es scheinbar keinen Platz mehr für Gordon Brown, dessen politische Karriere morgen zu Ende gehen könnte. Der 59-jährige Premier hat angedeutet, im Fall einer Niederlage seinen Parteiposten räumen zu wollen: „Wenn ich nichts ändern könnte, würde ich zurücktreten und mich mit Wohltätigkeit beschäftigen“.

Noch bevor die Briten ihr Urteil über drei Jahre Brown an der Macht fällen durften, begannen seine Feinde bei Labour die Messer zu wetzen: Angeblich streiten sich die Traditionalisten und Reformer in der Partei darüber, ob Außenminister David Miliband oder Schulminister Ed Balls der bessere Nachfolger wäre. Kurz vor der Wahl fiel ein Labour-Kandidat in Norfolk seinem Parteichef in den Rücken, als er Brown öffentlich den „schlechtesten Premier in der britischen Geschichte“ nannte. Zeitgleich stellten zwei Regierungsmitglieder ungehemmt die Wahlstrategie des Premiers in Frage, als sie gegen seinen Willen den Briten empfahlen, statt eigener Kandidaten zur Not deren liberaldemokratischen Konkurrenz zu wählen, um Camerons Siegesmarsch zu stoppen. Aber kann er aufgehalten werden? Vom Vorsprung in den Umfragen beflügelt, sah sich der 43-jährige Oppositionschef an der Türschwelle zur „Nummer Zehn“. „Ich kann es kaum erwarten, zu starten“, gestand er den Journalisten. Dennoch verdoppelte Cameron am Ende der Kampagne seine Anstrengungen, als er in einen eineinhalbtägigen Nonstop-Wahlmarathon kreuz und quer durch Großbritannien aufbrach. „Lasst uns hinausgehen und für Großbritannien siegen“, bat er seine Anhänger.

Tatsächlich könnte bereits ein Umschwung von 20 000 Wählern in einigen heiß umkämpften Labour-Bezirken Zentralenglands reichen, um einen Machtwechsel in London zu bewirken. Während sich Cameron von Ehefrau Samantha mit einem Kuss in seine letzte große Tour verabschiedete, müssen viele Labour-Fans ungläubig auf fatalistische Fotos von Brown in den Zeitungen gestarrt haben. Mit zusammengefalteten Händen schien der Labour-Chef auf den Bildern ins Nichts zu blicken. Der Pfarrerssohn sprach mit Gott. Morgen werden die Briten erfahren, ob Browns Gebete erhört wurden.

von RZ-Korrespondent Alexei Makartsev