Berlin

Beschneidung wird zur Gewissensfrage für die Abgeordneten

Bundestag
Ein Rabbiner verfolgt auf der Gästetribüne des Bundestages in Berlin die Debatte um die rechtliche Regelung der Beschneidung bei männlichen Kindern. Foto: Wolfgang Kumm

Ein jahrtausendealtes religiöses Ritual stürzt Politiker aus fast allen Fraktionen des Bundestages in einen Gewissenskonflikt. Noch vor wenigen Wochen bewegte die Frage, ob bei der von gläubigen Juden und Muslimen praktizierten Beschneidung von Jungen das Kindeswohl gefährdet ist, allenfalls juristische und medizinische Fachkreise. Seit dem Urteil des Kölner Landgerichts aber wird allerorten diskutiert.

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Und nachdem der Bundestag rasch eine Resolution verabschiedet hat, nach der er die Beschneidung auch künftig grundsätzlich erlauben will, melden sich jetzt viele kritische Stimmen. Die Beschneidungsfrage ist offenbar für manchen zum Gewissenskonflikt geworden.

Bedeutet Beschneidung Körperverletzung?

Überhaupt aufgekommen ist sie, weil das Kölner Gericht im Mai Beschneidungen von Jungen aus religiösen Gründen für rechtswidrig und strafbar erklärt hatte. In dem konkreten Fall war ein Vierjähriger nach der Operation durch einen erfahrenen Mediziner mit Blutungen in einem Krankenhaus behandelt worden. Die Kölner Richter urteilten, dass die Beschneidung den Körper des Kindes „dauerhaft und irreparabel“ verändert. Diese Art von „Körperverletzung“ sei auch durch die Einwilligung der Eltern nicht zu rechtfertigen. Auch der Bochumer Strafrechtsprofessor Rolf Dietrich Herzberg ist dieser Ansicht. Für ihn ist das Ritual eine „Missachtung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit“.

Doch die Frage der Beschneidung berührt noch andere Grundrechte. Dazu zählt auch das Recht auf freie Religionsausübung und das Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder selbst zu entscheiden. Den Juristen im Haus von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) obliegt nun die Aufgabe, in einem Gesetzestext alle Grundrechte zu berücksichtigen und Rechtssicherheit herzustellen. Schon im Herbst soll ein Gesetz vorliegen.

Muslime und Juden tief verunsichert

Doch Leutheusser-Schnarrenberger dämpfte bereits Erwartungen. „Die Sache ist komplizierter, als ein einfaches Sätzchen irgendwo einzufügen, wie sich das einige vorstellen“, sagte sie dem „Spiegel“. Für die mehr als vier Millionen Muslime und etwa 200.000 Juden im Land wäre eine monate- oder jahrelange Ungewissheit fatal. Viele von ihnen sind schon jetzt tief verunsichert. Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, ist unvorstellbar, dass ausgerechnet Deutschland mit seiner Geschichte jüdisches Leben in Deutschland erschweren könnte. Strafverfahren infolge von Beschneidungen sind bisher aus keinem anderen Land bekannt, eindeutige gesetzliche Regelungen gibt es aber auch fast nirgends. Das Ritual wird meist gesellschaftlich gebilligt, aber rechtlich in einer Grauzone belassen.

Die Debatte kochte in den vergangenen Tagen bereits derart hoch, dass die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sich einschaltete. Deutschland mache sich mit dem Richterspruch aus Köln zur „Komikernation“, soll sie gesagt haben. Die Resolution des Bundestages ist zunächst vor allem als symbolischer Akt zu verstehen, die Wogen, die bis ins Ausland reichen, von wo aus man nun gespannt den Ausgang erwartet, zu glätten. Bei anhaltender Rechtsunsicherheit drohten Beschneidungen im Hinterzimmer oder ein „Beschneidungs-Tourismus“, hieß es aus dem Bundestag. Konsens ist die Praxis der Beschneidung unter den Abgeordneten aber offenbar nicht.

Aus der SPD-Fraktion, die zunächst auch auf eine rasche rechtliche Klärung im Sinne der in Deutschland lebenden Juden und Muslime gedrängt hatte, meldete sich Kinderbeauftragte Marlene Rupprecht zu Wort. Viele SPD-Abgeordnete hätten sich von der Resolution überfahren gefühlt. Rupprecht bezeichnet Beschneidungen als „eine Form der Verstümmelung. Auch bei Jungen.“ Auch die Grüne Katja Dörner erklärte, es sei Sache des Bundesverfassungsgerichts, über Grundrechte abzuwägen, nicht die des Bundestages. Die Grünen forderten eine intensive Debatte über das Thema. Auch in der FDP herrscht offenbar keine Einigkeit in der Frage, wie ein künftiges Gesetz die Frage der Beschneidung regeln könnte. Der integrationspolitische Sprecher der Liberalen, Serkan Tören, schrieb in einem Brief an die Justizministerin: „Um den neuen Unklarheiten entgegenzutreten, setze ich mich für eine gesetzliche Klarstellung der Legalität von Beschneidungen ein.“ Ihm sei klar, „dass das Bundesverfassungsgericht früher oder später über die Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen entscheiden wird, vielleicht sogar entscheiden muss“. Eine rasche Lösung wäre in diesem Fall Experten zufolge eher unwahrscheinlich.

Mediziner warnen vor Folgen der Operation

Unterdessen haben sich Mediziner und Juristen in die Debatte eingeschaltet. Prof. Dr. Matthias Franz von der Universität Düsseldorf etwa warnt vor den Folgen der Operationen: „Die Entfernung der Vorhaut im Säuglings- oder Kindesalter stellt ein Trauma dar und kann zu andauernden körperlichen, sexuellen oder psychischen Komplikationen und Leidenszuständen führen.“ Auch die Politik steht vor der schwierigen Frage, was schwerer wiegt: das Recht der Eltern zu wissen, was für ihr Kind gut ist, oder das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann