Augenzeugenbericht: Wie ist solches Leid in Worte zu fassen?

Joachim Türk, ehemaliger Chefredakteur unserer Zeitung, gehörte zu den ersten Journalisten am Unglücksort. Er schildert seine Eindrücke der verheerenden Nacht und des Morgens danach.

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Joachim Türk, ehemaliger Chefredakteur unserer Zeitung, gehörte zu den ersten Journalisten am Unglücksort. Er schildert seine Eindrücke der verheerenden Nacht und des Morgens danach:

Die Szenerie ist bedrohlich. Gefährlich. Ganz anders als bei allen Unfällen und Bränden, über die ich in den vergangenen zehn Jahren berichtet habe. Das hier ist noch nicht vorbei. Es stinkt nach Benzin. Uniformierte murmeln Messwerte in ihre Funkgeräte und warnen vor neuen Explosionen. Hier und da flackern Flammen auf in den rußigen Ruinen. Es ist wie in Kriegsfilmen, wenn die Vorhut der Sieger in die zerstörte Stadt vordringt. Voller Angst vor Minen und Heckenschützen. Genauso bewegen wir uns in dieser Nacht durch die Innenstadt von Herborn.

Es war ein sonniger, entspannter Feierabend im Garten, bis der Polizist anrief. Er sprach nicht von Unfall oder Feuer. Nein. Eine Katastrophe war über die hübsche Kleinstadt in Hessen knapp jenseits der Landesgrenze hereingebrochen. Es muss kurz nach 22 Uhr gewesen sein, als ich mich auf den Weg machte. Im Radio hörte ich Details. Der Tanker. Die Eisdiele. Vermutlich Dutzende Tote. Großalarm.

Im Ortskern verliert Herborn seine Vertrautheit. Das Gebäude an der Ecke ist eingestürzt, daneben liegt das ausgeglühte Skelett des Tanklasters. Die Häuser ringsum sind ausgebrannt. Der allgegenwärtige Ruß, Rauch und Wasserdampf machen die Nacht noch dunkler. Der Spritgeruch ist ständige Mahnung. Wen soll ich ansprechen? Die Feuerwehrmänner sind hundemüde, die frischen Verstärkungen aus ganz Hessen rücken ahnungslos vor und werden in neue Einsätze geschickt: Gasnester aufspüren; der nahen Dill entlang nach Resten der mehr als 30 000 Liter Sprit suchen, die in den Fluss gelangt sind. Andere Einsatzkräfte fangen an, nach den Opfern zu suchen. Bis zu 50 werden unter den Trümmern vermutet. Mit Journalisten redet da keiner. Und mir ist nicht nach fragen zumute.

Weit nach Mitternacht treffe ich außerhalb der Absperrung auf erste Augenzeugen. Die einen schweigen – immer noch geschockt. Die anderen haben sich exklusiv an die Reporter der Boulevardblätter und Magazine verkauft, die vor jedem mit Geldscheinen wedeln auf der Suche nach exklusiven Zitaten. Und Fotos. Bildern des Infernos. Gegen Morgen treffe ich immer noch Einheimische, die sich gegenseitig helfen, das zu begreifen, was sie seit Stunden vor Augen haben. Wir kommen ins Gespräch; ein Stück Trauerarbeit bei ihnen wie bei mir. So komme ich zu meinen Zitaten. Das Menschliche steht auf den letzten Seiten des Spiralblocks – hinter den erschütternd sachlichen Meldungen der Einsatzleitstelle. Wie ist solches Leid in Worte zu fassen?

Um 5 Uhr geht es nach Hause. Schlafen? Keine Chance. Der Schock, die wie gebrochen wirkenden Menschen, die blinden Fassaden, das Lkw-Skelett lassen mich auch im Morgengrauen nicht los. Kurze Absprache mit den Kollegen in der Redaktion. Zurück nach Herborn. Im Radio beginnt schon der nächste Abschnitt des Dramas: Herborn – eine Kleinstadt wird Fanal. „Nach Herborn“ ist nicht mehr Zielangabe, sondern Aufruf. „Nach Herborn“ müssen die Gefällstrecken mit Notfallbuchten versehen, die Lastwagen sicherer gebaut werden. Ich ahne: Noch in 25 Jahren wird Deutschland auf diese Katastrophe blicken und hoffentlich die richtigen Konsequenzen gezogen haben. „Nach Herborn“ habe ich nie mehr über Unglücke schreiben können, ohne zutiefst mit den Hinterbliebenen zu trauern.