Rheinland-Pfalz/Brüssel/Paris

Atomkraft: Die große Angst vor dem GAU ist zurück

Das AKW Philippsburg bei Karlsruhe soll bis 2019 vom Netz gehen. Zuletzt wurde bekannt: Prüfer sollen Sicherheitskontrollen vorgetäuscht haben. Das AKW steht wegen einer Revision still. Bei einem schweren Unfall müssten in Rheinland-Pfalz aus der 20-Kilometer-Zone 300 000 Menschen evakuiert oder sogar auf Dauer umgesiedelt werden, so das Ministerium.
Das AKW Philippsburg bei Karlsruhe soll bis 2019 vom Netz gehen. Zuletzt wurde bekannt: Prüfer sollen Sicherheitskontrollen vorgetäuscht haben. Das AKW steht wegen einer Revision still. Bei einem schweren Unfall müssten in Rheinland-Pfalz aus der 20-Kilometer-Zone 300 000 Menschen evakuiert oder sogar auf Dauer umgesiedelt werden, so das Ministerium. Foto: dpa

30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist die große Angst vor dem GAU zurück. Auch in Rheinland-Pfalz – und vor allem im Eifelkreis Bitburg-Prüm. Nur 80 und 100 Kilometer von seinen Grenzen entfernt stehen gleich zwei berüchtigte Pannenreaktoren – Cattenom (Frankreich) und Tihange (Belgien), an dessen Reaktordruckbehälter zuletzt 16 000 Risse gezählt wurden. Dies alarmiert Landrat Joachim Streit (Freie Wähler) in der Eifel gewaltig.

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Von unserer Chefreporterin Ursula Samary

Da Terroristen zuletzt auch einen belgischen Nuklearfachmann observierten und ein Anschlag auf den Reaktor nicht auszuschließen ist, hat Streit apokalyptische Bilder vor Augen. In einem emotionalen Brief hat er versucht, Frankreichs Staatspräsident François Hollande und Belgiens Premierminister Charles Michel zum Atomausstieg zu bewegen – flankiert von 140 000 Facebook-Unterstützern in zwei Tagen. „Es gäbe mir als Familienvater große Sicherheit, wenn sich Ihre Länder aus der Atomkraft verabschieden.“

Damit trifft er den Nerv der Bürger – in der Eifel wie in Cattenoms Schatten an der Mosel. Überparteilich einig unterstützt der Eifelkreis auch finanziell die Klage der Städteregion Aachen gegen das Atomkraftwerk Tihange 2, dessen Sicherheit die Reaktorsicherheitskommission massiv anzweifelt. Landrat Streit hat auch an die Mainzer Ampelkoalitionäre appelliert, sich klar zu positionieren – auch zu Cattenom.

Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima musste die RWE AG Block A (den älteren der beiden Blöcke) von Biblis in Südhessen am Abend des 18. März 2011 herunterfahren. Block B war wegen einer planmäßigen Revision bereits vom Netz. RWE folgte damit der Anordnung der hessischen Landesregierung. Es gab immer wieder meldepflichtige Ereignisse.
Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima musste die RWE AG Block A (den älteren der beiden Blöcke) von Biblis in Südhessen am Abend des 18. März 2011 herunterfahren. Block B war wegen einer planmäßigen Revision bereits vom Netz. RWE folgte damit der Anordnung der hessischen Landesregierung. Es gab immer wieder meldepflichtige Ereignisse.
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Dazu findet sich im Koalitionsvertrag nichts. Malu Dreyers (SPD) Staatskanzlei erklärt aber auf Anfrage unserer Zeitung, dass sich die Landesregierung weiter mit allen ihren Mitteln „für die baldmöglichste und dauerhafte Stilllegung der Atomkraftwerke in Cattenom, Fessenheim, Tihange und Doel einsetzen wird“. Mit NRW hat sie Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, weil Belgien bei der Laufzeitverlängerung der AKW von 2015 auf 2025 die Umweltverträglichkeitsprüfung völlig ignorierte. „Gegen das AKW Cattenom besteht keine juristische Handhabe, solange kein entsprechender Rechtsakt für den Weiterbetrieb über 40 Jahre hinaus vorliegt“, lässt Dreyer mitteilen. Dies könnte erst 2026 sein.

Dass die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) Trier einen Katastrophenschutzplan (Stand: Mai 2011) für die Umgebung der Kernkraftwerke Cattenom und Tihange wie auch rund um Biblis, Neckar und Philippsburg in der Schublade hat, kann weder Streit noch den Kreis Trier-Saarburg beruhigen, wo nach seinen Angaben 7000 Menschen – und Hunderttausende in der Stadt Luxemburg – in der 25-Kilometer-Zone leben.

Die geplante Ausgabe von Jodtabletten erinnert Landrat Streit irgendwie „ans Verteilen von Regenschirmen“, zumal die Tabletten wegen ihrer Nebenwirkungen nur junge Menschen schlucken sollen, möglichst noch zwei Tage vor einem GAU, wie Streit süffisant hinzufügt. „Und was ist, wenn jeder nur denkt: Rette sich, wer kann?“, fragt sich Streit angesichts des Plans, der nach Ministeriumsangaben seit der Katastrophe von Fukushima überarbeitet werden muss. „Wer nimmt dann so viele Flüchtlinge auf?“

Als Schrottreaktor ist das französische AKW Cattenom nach etlichen Zwischenfällen gefürchtet – im nur 48 Kilometer entfernten Trier ebenso wie in Luxemburg, das für die Abschaltung Geld geboten hat. Denn ein GAU würde das Fürstentum praktisch auslöschen. Der Sicherheitsstandard des AKW gilt als miserabel. Trotzdem soll es bis 2045 Strom produzieren.
Als Schrottreaktor ist das französische AKW Cattenom nach etlichen Zwischenfällen gefürchtet – im nur 48 Kilometer entfernten Trier ebenso wie in Luxemburg, das für die Abschaltung Geld geboten hat. Denn ein GAU würde das Fürstentum praktisch auslöschen. Der Sicherheitsstandard des AKW gilt als miserabel. Trotzdem soll es bis 2045 Strom produzieren.
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Im Kreis Trier-Saarburg meint Pressesprecher Thomas Müller – mit einem eigenen Alarmplan für den Kreis im Rücken – nachdenklich, ob ein Katastrophenschutzplan nicht ohnehin „in Teilen akademisch ist“. Wie solle eine Behörde Evakuierungsräume festlegen, wenn niemand vorher wisse, wohin der Wind eine Atomwolke treibt? Er ist überzeugt, dass sich alle, die laufen können, „selbst evakuieren und sich einfach ins Auto setzen“. Eines sei der Kreisverwaltung aber wichtig: einen eigenen Vorrat an Jodtabletten pflegen, den Katastrophenschutz mit allen notwendigen Messgeräten ausstatten, in Übungen testen, ob die Kommunikation funktioniert, ohne zu wissen, ob die ADD als Krisenmanager und Einsatzleiter nicht auch aus Trier flüchten muss.

Die Notfallplanung für einen gefürchteten GAU – sie ist äußerst schwierig, im Ernstfall schnell eine nationale bis internationale Frage. Auf schärfste Kritik stößt der bisherige ADD-Plan im Kreis Ahrweiler bei Landrat Jürgen Pföhler (CDU). Er spricht wegen zu vieler offener Fragen von einem „Micky-Maus-Plan“. Sollten etwa THW- und DRK-Mitarbeiter den Wetterbericht beobachten, um zu berechnen, wohin die Atomwolke zieht? Katastrophenschutz in direkter Nachbarschaft von Cattenom und Tihange müsse mindestens national abgestimmt werden.

Pföhler fordert – wie sein Kollege Streit in Bitburg-Prüm – von der neuen Landesregierung, dass sie deutlich mehr Druck auf den Bund macht, damit Deutschland Belgien wie Frankreich finanziell für den Atomausstieg entschädigt und Anreize schafft.

Das hat auch Luxemburg angeboten. Doch für Dreyer ist dies keine Option. „Ein solches Vorgehen wird strikt abgelehnt, denn es würde bedeuten, dass politische Entscheidungen erkauft würden.“ Das stößt bei Landräten auf Unverständnis. Pföhler erwartet aber auch von Kanzlerin Angela Merkel, die 2011 den deutschen Atomausstieg forciert hat, dass sie die Bedrohung durch einen GAU international thematisiert. Denn die Gefahr ist für die Landräte längst keine abstrakte mehr – und Cattenom wie Tihange liegen viel näher als das gut 1600 Kilometer entfernte Tschernobyl.