Andrea Nahles und
 die Kunst der Zuversicht

Die 47-Jährige will am Sonntag erste Frau an der SPD-Spitze werden
Die 47-Jährige will am Sonntag erste Frau an der SPD-Spitze werden Foto: dpa

Auf ihren Autofahrten durch Deutschland liest Andrea Nahles derzeit ein Buch – wenn sie mal nicht am Telefon mit ihren Ministern die Regierungsarbeit koordiniert oder Akten studiert. „Hector und die Kunst der Zuversicht“, heißt es – und handelt von einem Mann, der an seinem Leben zweifelt und dessen Ehe zerbröckelt. So beschließt er, alte Freunde in aller Welt um Rat zu fragen, um neuen Mut zu schöpfen.

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Es könnte eine Parabel auf die gerupfte SPD und Andrea Nahles sein, die Kunst der Zuversicht braucht die Partei mehr denn je – und Andrea Nahles muss sie verkörpern. Sie ist gerade mal wieder von ihrem Bauernhof in Weiler in der Vulkaneifel (Kreis Mayen-Koblenz) nach Köln/Bonn zum Flughafen gefahren, nach Bremen geflogen, von dort ging es im Dienstwagen weiter nach Bad Fallingbostel zum Parteitag der niedersächsischen SPD. Ein angenehmer Termin, Applaus, Rückhalt.

Sie ist viel im Land unterwegs, vor jenem 22. April 2018, der in die Geschichte eingehen dürfte. Sie will beim Sonderparteitag in Wiesbaden die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokraten werden, in 155 Jahren Parteihistorie. Nach dem Absturz auf 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl und den Verwerfungen wegen des Eintritts in die Große Koalition wartet auf Nahles eine Sisyphosaufgabe.

Sie muss interne Konflikte im Verhältnis zu Russland (Aufheben der Sanktionen oder nicht), beim Thema Flüchtlinge (offene Grenzen oder harte Linie) und zur Zukunft von Hartz IV kitten – auch um den Bürgern einen klareren Kurs zu vermitteln. „Man muss auch mal den Mumm haben, ein paar heiße Eisen anzufassen“, sagt Nahles in Bad Fallingbostel. So will sie die SPD als Friedensmacht stärken – und dazu gehöre ein Wandel durch Annäherung an Moskau. „Dieses Sterben und Morden in Syrien wird nur beendet durch eine diplomatische Lösung mit Russland“, ruft sie ihren niedersächsischen Parteifreunden vom Podium zu. Und: „Die SPD muss nicht gerettet werden. Sie wird gebraucht.“ Kunst der Zuversicht.

Der Parteitag in Wiesbaden ist der vierte binnen 13 Monaten, das zeigt das Drama der SPD. Nur einer war ein regulärer, der nach der Bundestagswahl. Erst trat Sigmar Gabriel Anfang 2017 zurück und übergab Vorsitz und Kanzlerkandidatur an Martin Schulz, der erhielt bei einem Sonderparteitag 100 Prozent Zustimmung.

Im Januar 2018 gab ein Sonderparteitag knapp grünes Licht für Koalitionsverhandlungen mit der Union, Schulz trat nach interner Kritik mit Abschluss der Verhandlungen zurück. Nahles unterstützte ausdrücklich seinen Plan, stattdessen Außenminister im Kabinett von Angela Merkel zu werden, was er zuvor ausgeschlossen hatte. Der Schulz-Plan hielt 44 Stunden, die Basis rebellierte. Auch Nahles schätzte die Stimmung bei den Genossen falsch ein.

In Wiesbaden ist Nahles die klare Favoritin gegen Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange. Die inszeniert sich als Frau der Basis gegen Nahles, die gefühlt seit Ewigkeiten in Berlin mitmischt. Dabei ist Nahles auch erst 47 Jahre alt – ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen, auch jenseits der Politik.

Mit 18 hatte sie einen schweren Autounfall in Schweden, als sie gegen einen Baum fuhr, davon zeugt die Narbe auf der Stirn. Die Tochter eines Maurers studierte Germanistik und schrieb ihre Magisterarbeit an der Universität Bonn über die „Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“. In Weiler lebt sie mit ihrer siebenjährigen Tochter. Nahles und ihr Mann, ein Kunsthistoriker, hatten Anfang 2016 die Trennung bekannt gegeben.

Weiler ist für Nahles auch ein Reflexionsort jenseits der Blase Berlin. „Wenn ich samstags die Straße kehre, kommen immer ein paar Leute vorbei, da wird viel gequatscht und ich weiß, was die Leute wirklich beschäftigt.“ Keine Sponti-Politik mit wechselnden Positionen wie bei Sigmar Gabriel, dafür steht Nahles. Sie ist kein Darlingtyp – und wurde lange unterschätzt, wie auch Merkel. Ihr Stilmittel ist es, persönliche Erfahrungen einzuflechten. „Wie können wir den Menschen Partner sein, wenn sie, wie meine Cousine Roswitha, nach 23 Jahren bei einer Bank durch einen Algorithmus ersetzt werden“, fragt Nahles in Bad Fallingbostel.

Eine Basisgeschichte gibt es auch, wenn sie nach ihrem Vorbild gefragt wird. Das war nicht Willy Brandt. Sondern: Helmut Kollig aus Kottenheim. „Willy Brandt war für mich weit weg, Helmut Kollig war ganz nah.“ Kollig war ihr Deutschlehrer an der Realschule Mayen, bevor sie aufs Gymnasium wechselte. Und Kollig war Sozialdemokrat; er lehrte die Schüler, wie wichtig es ist, sich einzubringen. Es gab damals keinen SPD-Ortsverein in Weiler, Nahles gründete mit Mitschülern einen, weil man ein Jugendzentrum durchsetzen wollte. Inzwischen kennt die 47-Jährige, die die Schlagzeile „Schufter mit Herz“ für sich selbst wählen würde, das politische Berlin genauso wie die Basis.

Wofür wird die SPD künftig stehen? Was sich abzeichnet: Die traditionell internationalistisch ausgerichtete SPD könnte sich stärker auf das Nationale konzentrieren, auch durch den Druck der aufstrebenden AfD gerade in Ostdeutschland. Und weil viele Bürger den Eindruck haben, für Flüchtlinge werde mehr getan als für die Bürger im eigenen Land. „Sich um die kümmern, die kommen, und um die kümmern, die da sind: Das ist die doppelte Aufgabe“, so hat es Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel formuliert.

Nahles wollte nach dem Schulz-Rückzug eigentlich sofort das höchste Parteiamt kommissarisch übernehmen, aber das wurde im Vorstand blockiert. Denn das hätte nach dem Schaffen vorzeitiger Fakten ausgesehen. Zumal es mit Flensburgs OB Lange eine umtriebige Gegenkandidatin gibt. So übernahm SPD-Vize Olaf Scholz – bis zu dem Sonderparteitag.

Nahles eckt seit jeher an, ihr bestes Wahlergebnis waren bisher 74,8 Prozent bei der Wahl zur stellvertretenden Vorsitzenden 2007. Als Generalsekretärin bekam sie von 2009 bis 2013 einmal sogar nur 67,2 Prozent. Daher lautet das Wiesbaden-Ziel: 75 Prozent plus x.

Rückblick, 1995, Mannheim: Nervös zupft sich die 25 Jahre alte Jusos-Chefin an den schwarzen Haaren, gleich kommt ihre erste Rede auf einem Bundesparteitag. Wenige Tage zuvor hat sie auf die Frage, ob Rudolf Scharping gestürzt werden könnte, gesagt: „Das ist gefrühstückt, Leute, das wollen die Medien immer gerne haben. Das hat die Partei nicht vor.“

Dann hält Scharping eine schwache Rede, Nahles zeigt sich in ihrer Ansprache enttäuscht. Oskar Lafontaine tritt gegen Scharping an und gewinnt. Nahles jubelt. Lafontaine bezeichnete Nahles später als „Gottesgeschenk“ für die Partei.

Andere sahen sie lange als Spalterin. 2005 ließ sie sich gegen den Kandidaten des SPD-Chefs Franz Müntefering, Kajo Wasserhövel, für den Posten der Generalsekretärin nominieren und setzte sich durch, Müntefering trat zurück. Auch Nahles verzichtete auf den Job der Generalin, das wurde sie dann 2009. Einige Genossen beklagen bei ihr die gleichen Muster wie bei den Männern: zu wenig Beteiligung bei Personalentscheidungen, Absprachen in kleinen Zirkeln.

Die Schulz-Katastrophe macht sie nun wohl zur zweitmächtigsten Frau Deutschlands nach Angela Merkel. Beide verstehen und schätzen sich, als Bundesarbeitsministerin (2013-2017) setzte Andrea Nahles den historischen Mindestlohn durch – und galt stets als verlässlich.

Nun ist sie als Chefin der SPD-Bundestagsabgeordneten und mögliche Vorsitzende bewusst nicht Teil der Bundesregierung in der erneuten Großen Koalition. Mit mehr Beinfreiheit will sie das SPD-Profil schärfen, ein Machtzentrum neben der Regierung bilden. Ob sie, Vizekanzler Scholz oder ein ganz anderer aus den sozialdemokratischen Reihen in die nächste Wahl führt, das wird eine spannende Frage – ist aber noch weit weg.

Die Stärke von Nahles ist das Zuhören, sie ist volksnah (beim letzten Karneval verkleidete sie sich als Clown) und schreckt auch vor besonderem Vokabular nicht zurück. „Für die Leute machen wir das, verdammte Kacke nochmal“, sagte sie über die Rente mit 63.

Entscheidend wird sein, in den ostdeutschen Bundesländern die Parteistrukturen zu verbessern, auch durch mehr Hauptamtliche. Eine Idee ist ein „Change your Seat“-Programm: Leute von der Basis arbeiten mal im Willy-Brandt-Haus in Berlin mit – und umgekehrt, um zu erfahren, was vor Ort wirklich bewegt. Und um gemeinsam bürgernahe Rezepte zu finden. Doch kann Nahles die Partei mit ihren knapp 460.000 Mitgliedern einen? Wie wird sie die auf einen Linkskurs pochenden Jusos um deren Chef Kevin Kühnert einbinden? Sie ist jetzt so etwas wie die Trümmerfrau der SPD. Und für die geht es heute fast schon um die Existenz. Georg Ismar