Nürburgring

Rock am Ring ist zurück oder: Geschichten vom Zeltplatz

Von Stefan Schalles
Hobbypfandsammler Boris ( 2. von links) nimmt sich kurz Zeit für ein Foto mit Zufallsbekanntschaften.
Hobbypfandsammler Boris ( 2. von links) nimmt sich kurz Zeit für ein Foto mit Zufallsbekanntschaften. Foto: Stefan Schalles

Einen Moment lang ist es wie die Begegnung mit einem alten Freund, den man für eine Weile nicht gesehen hat. Die Menschenmassen, die Zeltstädte, die Blechlawinen, alles wirkt ein bisschen fremd nach drei Jahren Corona-Pause, ein bisschen ungewohnt, doch die Zweifel sind bald zerstreut. Es braucht nur ein bisschen Van Halen aus der Bose-Box, ein entgegengestrecktes Dosenbier, um die Erinnerung wieder aufzufrischen, um plötzlich zu begreifen: Rock am Ring ist zurück.

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Der offizielle Start des Festivals liegt an diesem Nachmittag noch gute 24 Stunden in der Zukunft, doch die Party hat längst begonnen, ist aus den abgestellten Autos auf die Bürgersteige geschwappt, zieht von dort weiter zu den Zeltplätzen. Hunderte sind hier unterwegs, Menschen mit freiem Oberkörper, laut singend, Menschen, die sich als Osterhasen verkleidet haben, rosa Kostüm samt angenährter Karotte, Menschen, die Sächsisch sprechen, gefolgt von solchen, die so tun, als ob sie Sächsisch sprechen, Menschen in SC-Paderborn-Trikots.

Reiche Beute vom Bummeln

Vor dem Zeltplatz fünf haben sich derweil Boris und Marianne, so ihre „Künstlernamen“, auf den Weg gemacht – nicht zu irgendeinem Spaziergang, sondern zu einem, der Geld bringt. Einmal pro Tag gehen die beiden Andernacher über das Festivalgelände, sammeln Pfanddosen, trinken in aller Ruhe ihr Wegbier.

In einem mit Gittern umrandeten Wagen stapelt sich gut einen Meter hoch die Ausbeute des heutigen Bummels – Becks, Jever, Mixery. Boris beugt sich über eine Mülltonne, fischt von deren Boden in einer fließenden Bewegung zwei weitere Dosen, wirft sie auf den Blechberg.

„Gestern hatten wir am Ende 46 Euro zusammen“, erzählt er. „Wir leben nicht vom Pfandsammeln, aber der Festivalbesuch wird auf diese Weise einfach günstiger.“ Das aufgelesene Leergut geben die beiden schließlich in einem Supermarkt auf dem Festivalgelände ab. „Von dem Geld kaufen wir uns dann was Leckeres zum Abendessen“, sagt Boris lächelnd. „Kostet uns pro Tag eine Stunde, und nebenbei haben wir noch was für die Umwelt getan.“ Sprach's – und zog weiter.

Was wäre das Festival ohne Menschen?

Schön, dass Rock am Ring zurück ist, möchte man ausrufen, doch was wäre das Festival ohne solche Menschen? Ohne diese angenehm Eigenartigen, diese sonderbaren Unikate, die hier gefühlt vor jeder zweiten Zeltwand in der Sonne sitzen. Keine 30 Meter Luftlinie entfernt etwa, wo eine Gruppe aus der Nähe von Dannenberg in Niedersachsen ihr Lager auf Zeit eingerichtet hat – in der improvisierten Vorratskammer Bier – was sonst? –, daneben eine Getränkekiste mit diversen Schnapsmixturen, zudem Flaschen mit dem Aufkleber „Vorsicht, Wasser“.

Für Felix ist es nach 2017 und 2019 bereits das dritte Rock am Ring. Erstmals kam er in die Eifel, „weil ich der größte Tote-Hosen-Fan bin und mir damals gesagt habe: Die muss man wenigstens einmal live hier gesehen haben.“

Farina (2. von rechts) und ihre Mitstreiter im Booty Camp bereiten sich bereits auf die nächste Party vor und nehmen− vorerst noch − mit der kleinen Tasse vorlieb.
Farina (2. von rechts) und ihre Mitstreiter im Booty Camp bereiten sich bereits auf die nächste Party vor und nehmen− vorerst noch − mit der kleinen Tasse vorlieb.
Foto: Stefan Schalles

Drei Jahre Festivalentzug, fügt er an, hätten „wirklich wehgetan“. Umso glücklicher sei er nun, wieder hier zu sein. Im Übrigen als einer der Ersten: Mit seinen Mitstreitern Christian und Basti stand Felix bereits eine Stunde vor Öffnung der Campingplätze auf der Ring-Matte. Der Grund: „Wir sitzen einfach gern vor unserem aufgebauten Zelt und beobachten, wie die, die gerade erst angereist sind, keuchend mit ihren Sackkarren an uns vorbeigehen.“

„Hier ist einfach so viel Liebe. Wenn sich die Menschen überall auf der Welt so verhalten würden, gäbe es viel weniger Probleme.“

Felix (31) aus der Nähe von Dannenberg in Niedersachsen

Doch die Leidenschaft für Festivals an sich hat weitaus tiefere Gründe. „Hier ist einfach so viel Liebe“, erklärt Felix. „Wenn sich die Menschen überall auf der Welt so verhalten würden, gäbe es viel weniger Probleme.“ Seinen Nachbarn, so der 31-Jährige, habe er eben erst Absperrband geliehen, um die Löscher der Wühlmäuse provisorisch abzudecken, sie ihm dafür zwei Scheiben Käse geschenkt (über die sich die Wühlmäuse sicher auch gefreut hätten). „Hier sind einfach alle entspannt. Wenn du Hilfe brauchst, bekommst du sie von jedem. Es ist ein supergeiles Miteinander.“

Selbst Rivalen kommen gut miteinander aus

Das sich wenig später dann auch gleich dem nächsten Praxistest unterziehen muss: Ein vorbeischlendernder St.-Pauli-Fan kommt mit den Niedersachsen ins Gespräch, die ihrerseits dem Stadtrivalen Hamburger SV die Treue halten. Man foppt sich, scherzt über das jeweilige Unvermögen des sportlichen Kontrahenten, einigt sich schließlich darauf, man möge im kommenden Jahr doch einfach gemeinsam aufsteigen in die Bundesliga, und befindet einhellig: „Ist doch schön, dass man hier mal einen Spaß machen kann, ohne sich gleich in die Haare zu bekommen.“

Noch ein gemeinsames Bierchen, ein Bild zum Andenken, der St.-Pauli-Sticker in trautem Einklang neben dem HSV-Trinkbecher, Praxistest bestanden.

Bei den Nachbarn – die mit den Wühlmäusen – hat man mit Fußball zwar weniger am Hut, die Stimmung aber bewegt sich auch hier im oberen Bereich der Skala. Weshalb man auch die Tatsache, dass der Alkohol einem Großteil der Gruppe bereits die klare Artikulation geraubt hat, ohne Lamentieren in Kauf nimmt. Gesprochen wird trotzdem, verstanden offenbar ebenfalls und vor allem getrunken, bevorzugt aus Gießkannen – noch Fragen?

Große Freude nach pandemiebedingter Pause

Markus, Vollbart, freizügiger Kleidungsstil, Piratenhut von Captain Morgan, ist zum ersten Mal am Ring und zeigt sich von der Festivalatmosphäre begeistert. „Enttäuscht bin ich lediglich von den Menschen, die kein Bier trinken“, erzählt er augenzwinkernd. Wobei der Mann mit dem „Vor Hitze schützen“-Aufkleber auf dem Oberarm keineswegs nur für den Alkoholgenuss hier ist, gemeinsam mit seinen Begleitern vielmehr für die passende Musik auf Zeltplatz fünf verantwortlich zeichnet.

Aus einer massiven Box schallt es beinahe ohrenbetäubend hinab in die Eifeltäler. Der 23-jährige Jannick erklärt: „Wir haben alles und erfüllen jeden Musikwunsch.“ Sein bisheriges Fazit in aller Kürze: „Nach drei Jahren ohne Festivals haben wir jetzt einfach noch mehr Bock auf Rock am Ring als ohnehin schon.“

Ein (Lebens-)Gefühl, zu dem gute Musik nicht weniger beiträgt als die Zeit mit den richtigen Menschen, dem ein zünftiges Trinkspiel aber sicherlich ebenfalls keinen Abbruch tut. Auf dem Zeltplatz erzählt man sich an diesem Nachmittag von einem Mann, der die Leute für eine gepflegte Partie Flunkyball zu begeistern weiß – zwei Teams stehen sich hier aufgereiht gegenüber, versuchen abwechselnd, eine Bierdose in ihrer Mitte mi einem Ball umzuwerfen, trinken, wenn dies gelingt, aus ihren eigenen Dosen, bis jene in der Mitte wieder aufgestellt wurde. Die Mannschaft, deren Spieler als Erstes alle Getränke geleert haben, gewinnt.

Täglich zehn Partien Flunkyball

Doch zurück zum Wesentlichen: Den Mann, der für Gesprächsstoff sorgt, muss man gar nicht lange suchen, von den Dannenbergern aus nur ein Stück weit den Weg zwischen den Zelten hinuntergehen und schon steht er vor einem. Das Flunkyball-Match ist in vollem Gange, der Veranstalter selbst mittendrin, und doch nimmt sich Michael, so sein Name, einen Moment Zeit für ein paar Fragen.

„Ich bin froh, dass der Pavillon noch steht, es war ordentlich wild.“

Farina (24) nach einer der − in der Festivallandschaft längst berüchtigten − Partys im Booty Camp

Bis zu zehn Partien täglich, erzählt er, werden ausgetragen. „Morgens, mittags, abends und noch ein paar zwischendurch.“ Warum? „Weils einfach Spaß macht.“ Ganz wichtig: „Wir reisen immer mittwochs morgens an, damit wir einen guten Platz bekommen.“ Das Zelt, präzisiert Michael, sollte nach Möglichkeit an einem der Durchgänge aufgebaut werden, „dann haben wir alle Freiheiten, um Flunkyball zu spielen – und einen guten Blick auf die anderen Leute“. Sprich potenzielle Mitspieler, mit denen es kurz darauf bereits in die nächste Runde geht.

Einen Ballwurf entfernt befindet sich das Booty Camp, eine „Fusion aus Ruhrpott und Bremen“, wie die Gruppe sich selbst beschreibt, die seit 2013 durch die Festivallandschaft tourt, um dort kostenlose Partys auszurichten. Eine Berufung, „für die es nicht mehr braucht als ein bisschen Größenwahn und Leidenschaft für die Festivalwelt“, wie Farina erklärt. In Mendig organisierte das Booty Camp 2016 etwa ein riesiges Flunkyball-Turnier – womit wir wieder beim Thema wären –, 2019 am Ring eine Beachparty, während das Motto an diesem Abend „Schwarzlicht“ lautet. „Dir Ursprungsidee war, auf Festivals unser Camp zu bespaßen“, sagt Farina, „und dann kamen mit der Zeit immer mehr Leute dazu.“

Am nächsten Tag, kurz nachdem die Donots das Festival dann auch offiziell eröffnet haben, wird die 24-Jährige berichten, sie sei froh, „dass der Pavillon noch steht, es war ordentlich wild“. Die Pfandsammler aus Andernach sitzen derweil vor ihren Zelten, auf dem Grill die am Vorabend gekauften Steaks, die Dannenberger stehen irgendwo vor der Utopia Stage, feiern die Donots, trinken zwei, drei Bier. Ja, Rock am Ring ist schön. Gut, dass es endlich zurück ist. Aber was wäre das Festival ohne diese Menschen?