Mainz

#verafake – Böhmermann zückt sein Ass im Ärmel: Auch RZ berichtete über Vorführung von Protagonisten

Puff, Peng und Täterätä: Jan Böhmermann kehrt aus dem medialen Exil zurück und die Republik gerät aus den Fugen. Statt satirische Seitenhiebe auf den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan zu verteilen, kommt Böhmermann mit einem neuen Coup um die Ecke. 2011 hatten wir über ein ähnliches Thema – die Vorführung von Personen in „Scripted Reality“-Sendungen – berichtet.

Lesezeit: 5 Minuten
Anzeige
Jan Böhmermann
Jan Böhmermann ist wieder auf Sendung.
Foto: Ben Knabe/ZDF

Von unserer Reporterin Melanie Schröder

Eine bessere Werbung hätte sich der ZDF-Moderator Jan Böhmermann im Vorfeld seiner ersten „Neo Magazin Royale“-Sendung nach dem Erdogan-Eklat wohl kaum wünschen können: Detlef Seif (CDU), Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen, hatte am Donnerstag die Schmähkritik Böhmermanns auf den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan eins zu eins im Bundestag wiederholt. Der Erfinder der Satire selbst kommentierte die Aktion schadenfroh beim Nachrichtendienst Twitter: „Ich beantrage hiermit die Aufhebung der Immunität des CDU-Abgeordneten Detlef Seif wegen Verstoßes gg. §103 StGB“ – jenem Majestätsbeleidigungsparagrafen, für den sich Böhmermann nun voraussichtlich strafrechtlich verantworten muss. Zu schade, dass er diese Realsatire nicht mehr in die erste Folge seines „Neo Magazin Royale“ einbauen konnte – die Sendung wurde bereits am Dienstag aufgezeichnet und da war schon längst alles im Sack. Böhmermann hatte sein Ass schon im Ärmel.

Die Schmähkritik, die Hasstirade gegen seine Person und die Masse der Anzeigen im oberen dreistelligen Bereich übergeht der Medienmacher, ohne sich wirklich in die Karten schauen zu lassen. Am Ende der Sendung kommentiert er im Zwiegespräch mit seinem Studiogast Gregor Gysi nur: „Ich halte mich da raus, ich will mit dem ganzen Kram nichts zu tun haben. Ich mache lieber ein paar Scherze in einer Fernsehsendung und bin froh, wenn es vorbei ist.“ Gras drüber wachsen lassen und ein Ablenkungsmanöver starten, das ist die Strategie, die Böhmermann jetzt fährt.

Der Moderator legt offen, einen Kandidaten in die RTL-Show „Schwiegertochter gesucht“ eingeschleust zu haben. Ein Jahr Arbeit soll in dem Projekt stecken, für das die Redaktion zwei Schauspieler, „Robin“ und „den Vater von Robin“, engagierte. Von dem Privatsender unbemerkt wurden die „gefälschten“ Kandidaten in die Show aufgenommen. Böhmermann deckt auf. Schon wieder. Klar ist jedem, der die Trashsendung schon einmal gesehen hat, dass sie keinen anderen Zweck verfolgt, als Menschen vorzuführen. Und dafür hat Böhmermann die Fakten geschaffen. Seine Kandidaten-Kreatur sieht schäbig aus, spricht debil und verfolgt Hobbys für Freaks, wie zum Beispiel Schildkröten sammeln. Für RTL ist das noch nicht schräg genug. Mit versteckter Kamera dokumentiert „Neo Magazin Royale“, wie der Privatsender die Schrulligkeit der Personen für das Fernsehen noch weiter zuspitzt und mit welcher Dreistigkeit den Kandidaten für minimal zehn Drehtage gerade einmal eine Aufwandsentschädigung von 150 Euro angeboten wird.

Mit dem Aufruf des Videos erklären Sie sich einverstanden, dass Ihre Daten an YouTube übermittelt werden und Sie die Datenschutzerklärung gelesen haben.

Unter dem Hashtag „Verafake“ publiziert Böhmermann seine Investigativrecherche im Netz, das am Donnerstagabend schlagartig durch die Decke geht und zum Gesprächsthema Nummer eins im Internet avanciert. Böhmermann knüpft damit an seinen Eklat, um den Stinkefinger des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis an. Damals nutzte er das Hashtag „Varufake“ und führte die Medienlandschaft an der Nase herum. Er inszenierte eine Welle der Empörung und bekam am Ende für sein Verwirrspiel, ob echter oder falscher Stinkefinger, den Grimme-Preis verliehen.

Nun spinnt Böhmermann seine Rolle weiter – er, der letzte Retter der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Sich selbst betrachtet der Moderator als Kopf eines Sondereinsatzkommandos, wie er in einem Interview im ZDF-Mittagsmagazin am Donnerstag erklärte: „Ich trete die Tür ein und nach mir kommt die Kriminalpolizei und die Leute, die schauen was drin ist, in dem Raum, den ich aufgetreten habe.“ Den Schritt weiter will Böhmermann bewusst nicht gehen. Seine Sache ist es, Aufmerksamkeit zu schaffen für die dunkeln, dreckigen Ecken in der Gesellschaft, auf die sonst kein Licht fällt. Auch wenn die Akte „Schwiegertochter gesucht“ genau diesen Auftrag diesmal als Investigativrecherche und nicht als Satire erfüllt, besitzt sie nicht die Brisanz der Erdogan-Affäre, die einem politischen Erdbeben gleichkam.

Nur am Anfang seiner Sendung nimmt Böhmermann noch einmal Stellung zu diesem heiklen Thema und erklärt etwas salopp: „Ich halte mich raus. Ich möchte keinen Ärger mehr. Das riskiere ich nicht mehr. Keinen Bock mehr.“ Deshalb durfte auch sein Publikum Gags seit Anfang Mai bei ZDFneo einreichen. Gute zehn Minuten Sendezeit legte Böhmermann sein Schicksal in die Hände seines Publikums, weil er nicht mehr wisse, welche Witze noch erlaubt seien. Einerseits ist das ein Fingerzeig in Richtung gelebter Demokratie, in der die Macht vom Volke ausgeht, andererseits eine gescheite Strategie, von der die Internetplattform YouTube bereits seit Jahren profitiert und die Böhmermann gekonnt auf die „alte Tante“ Fernsehen überträgt: Community-Bindung heißt das Zauberwort, Nutzer gestalten die Inhalte mit. Und das Konzept geht auf – 10.000 Witze sollen in der Redaktion eingegangen sein. Auch eine Brise Kritik am Gegenstand serviert Böhmermann: Mit 103 Euro soll jeder Witz, der es in die Sendung schafft, vergütet werden, wie der Moderator in einem Videoaufruf ankündigte – weil eben auch Humor irgendwie käuflich ist. Mit diesem Vorwurf sieht sich Kanzlerin Angela Merkel seit ihrem Lippenbekenntnis „bewusst verletzend“ konfrontiert. Es hieß, sie ließe sich von Erdogan in Sachen Flüchtlingspolitik erpressen.

Böhmermann selbst ist bislang nur einmal konkret mit der Kanzlerin ins Gericht gegangen und hat dabei die Situation erneut gezielt eskalieren lassen: In einem Interview mit der „Zeit“ erklärte er, Merkel habe ihn zu einem deutschen Ai Weiwei gemacht. Gefundenes Fressen für all jene, die ihn dabei zu ernst genommen haben. Denn der Medienmacher selbst urteilte sarkastisch per Twitter: „Jetzt hält sich Böhmermann ernsthaft für Ai Weiwei. Also entweder ist der völlig verblödet oder ich!“ Böhmermann kokettiert nur zu gern mit dem Begriff des Künstlers, den er unumwunden für sich beansprucht. Und häufig war bei seinen Auftritten nicht klar, ist das jetzt alles nur ein Witz? Was ernst erscheint, entpuppt sich im nächsten Moment schon wieder als reine Inszenierung. Wirkt echt, ist aber Show. Genau wie „Schwiegertochter gesucht“. Vom Image des Clowns scheint sich Böhmermann aber immer mehr zu verabschieden.

RZ berichtete über ähnliches Thema: Vorführung von Personen in „Scripted Reality“-Sendungen

2011 hatten wir über einen ähnlich gelagerten Fall geschrieben. Eine Kandidatin der Sat.1-Kuppelshow „Schwer verliebt“ fühlte sich von der Produktionsfirma der Sendung vorgeführt und damit zum Gespött von Millionen Zuschauern gemacht.Sarah aus Fischbach in der Nähe von Idar-Oberstein war ernsthaft auf der Suche nach ihrem Traummann, doch die TV-Regie war der Meinung: „Wichtig ist, den Voyeurismus zu bedienen“.

In ihrem Zimmer hängt neben vielen anderen Stars auch ein Poster von Lady Gaga. Die Künstlerin macht sich gerade mit ihrer
In ihrem Zimmer hängt neben vielen anderen Stars auch ein Poster von Lady Gaga. Die Künstlerin macht sich gerade mit ihrer „Born This Way Foundation“ für Jugendliche stark, die unter Mobbing leiden – Hilfe, die Sarah gerade gut gebrauchen könnte...
Foto: Benjamin Stoess

Die Artikel über den „Fall Sarah“ erregten Aufmerksamkeit über die Grenzen des RZ-Landes hinaus – nicht zuletzt, als die sogenannte „Produktionsbibel“ von „Schwer verliebt“ mit detaillierten Vorgaben zum vorgesehenen Verhalten der Protagonisten auftauchte. Unsere Redakteurin Vera Müller recherchierte weiter. Wir haben die Artikel damals in unserem Blog gesammelt. Auch bei Facebook gab es damals viele Diskussionen rund um das Thema

jdl