London

England: Opern-Nachwuchs singt beim Biobauern

Christopher Stewart-Smith im Opernsaal vor der Aufführung von Tschaikowskis "Eugen Onegin": Seit elf Jahren veranstaltet der Bio-Bauer hier sein eigenes Festival, in diesem Jahr erfüllte er sich mit dem russischen Meisterwerk einen Herzenswunsch.
Christopher Stewart-Smith im Opernsaal vor der Aufführung von Tschaikowskis "Eugen Onegin": Seit elf Jahren veranstaltet der Bio-Bauer hier sein eigenes Festival, in diesem Jahr erfüllte er sich mit dem russischen Meisterwerk einen Herzenswunsch. Foto: Alexei Makartsev

Es ist mit Sicherheit das ungewöhnlichste Opernhaus Großbritanniens – es liegt mitten auf einem Feld in der Grafschaft Essex. Einmal im Jahr stellt der 70-jährige Bio-Bauer Christopher Stewart-Smith seinen Traktor in den Schuppen und scheucht die Hühner aus einer Grube heraus, die sich binnen weniger Tage in einen überdachten Saal mit 550 Sitzplätzen verwandelt.

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Halstead – Ein Hahn kräht. Irgendwo bellen Hunde. Über meinem Schuh krabbelt ein großer Käfer. Auf der Wiese vor dem ehemaligen Kuhstall singen vier russische Bäuerinnen zum Obstpflücken melancholische Lieder. Das Orchester schwelgt in Tschaikowskis berauschender Liebesromantik. Als ein Windstoß durch den Saal weht, ziehen die Damen in edler Abendgarderobe fröstelnd die grünen Fleece-Decken über ihre Knie. Und pünktlich zum Auftritt des Opernhelden Eugen Onegins hört man ein Flugzeug im Landeanflug den 15 Kilometer entfernten Flughafen London Stanstead ansteuern, aber das macht nichts. Denn wir sind im ungewöhnlichsten Opernhaus Großbritanniens, mitten auf einem Feld in der Grafschaft Essex.

Christopher Stewart-Smith im Opernsaal vor der Aufführung von Tschaikowskis „Eugen Onegin“: Seit elf Jahren veranstaltet der Bio-Bauer hier sein eigenes Festival, in diesem Jahr erfüllte er sich mit dem russischen Meisterwerk einen Herzenswunsch.

Alexei Makartsev

Landsitz mit Charme: Stanley Hall in der Grafschaft Essex.

Alexei Makartsev

Kultur geht auch durch den Magen: Der Opernabend auf dem Bauernhof beginnt mit einem stilvollen Picknick im Zelt.

Alexei Makartsev

Die Kulisse könnte aus einem Rosamunde-Pilcher-Film stammen. Doch die Geschichten, die in Stanley Hall erzählt werden, sind andere – hier wird Oper gespielt.

Alexei Makartsev

So sieht der „Saal“ der Stanley Hall Opera aus – das Foto entstand kurz vor Aufführungsbeginn von „Eugen Onegin“.

Alexei Makartsev

Einmal im Jahr stellt der 70-jährige Bio-Bauer Christopher Stewart-Smith seinen Traktor in den Schuppen und scheucht die Hühner aus einer Grube heraus, die sich binnen weniger Tage in einen überdachten Saal mit 550 Sitzplätzen verwandelt. Dann wird in Halstead bei Cambridge ein Bühnenbild gezimmert, Kostüme werden genäht und ein aus London angereistes rund 70-köpfiges Ensemble aus aufstrebenden Musikern und jungen Sängern übt eine neue Oper ein.

Die Gagen sind gering und statt in teuren Hotels werden die Künstler drei Wochen lang in Halstead bei Christophers Nachbarn und Freunden untergebracht. Dennoch ist die Stanley Hall Opera – das wohl ambitionierteste englische Opernfestival, das weder gesponsert noch subventioniert wird – solch ein Erfolg, dass manche Zuschauer sogar extra aus Kalifornien, Wien und Tokyo anreisen, um eine der vier Aufführungen im Sommer zu sehen.

„Die Menschen auf dem Land sind nicht mit Kultur verwöhnt. Das nächste Opernhaus, Covent Garden in London, ist 70 Kilometer von uns entfernt“. Der groß gewachsene Mann mit weißen Haaren lächelt triumphierend. „Ich habe allen gezeigt, dass man anspruchsvolle Kunst auch ohne Riesenkosten veranstalten kann“, sagt Stewart-Smith. „Unsere Opernsaison kostet mit 200 000 Pfund nur ein Zehntel von dem, was die großen Bühnen ausgeben. Im Notfall müsste ich die Verluste aus eigener Tasche decken, aber das ist noch nie passiert“.

Christopher bewohnt in Halstead ein 440 Jahre altes Fachwerkhaus auf einer künstlichen „Insel“, die mit einem Graben umgeben ist. Der ehemalige Präsident der britischen Handelskammer ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der zehn Jahre lang das Londoner Ausstellungszentrum Earls Court geleitet hat. „Es war schon immer mein Traum gewesen, eigene Opern aufzuführen. Mit 60 Jahren dachte ich: Jetzt oder nie“, erzählt er bei einer Tasse Tee. Auf seinem Bio-Bauernhof, wo er auf 75 Hektar Land Dinkel anbaut, hat Stewart-Smith genügend Platz für einige große Zelte und einen Parkplatz. Vor elf Jahren hob er eigenhändig mit einem Bulldozer ein Amphitheater aus und ließ einen alten Kuhstall erweitern und neu überdachen. „Dann rief ich bei 30 Bekannten an und fragte sie, ob sie jeweils zehn Leute zur ersten Aufführung mitbringen könnten. Sie sagten Ja“. Freunde und freiwillige Helfer packten mit an. So feierte Stanley Hall seine erste Premiere mit Mozarts „Cosi fan tutte“.

Es wird Zeit. Etwa zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung füllt sich der Bauernhof mit zumeist älteren Damen und Herren in teuren Kleidern, Smokings und Fliegen. Die Opernfans, die jeweils 90 Pfund (105 Euro) Eintritt bezahlt haben, packen im riesigen Picknickzelt ihr Abendessen aus und stärken sich zunächst mit Champagner und Sandwiches. Dann machen sie es sich auf den Klappstühlen im Saal gemütlich. „Wir haben zwei Vikare hier. Ihre Gebete für einen wolkenfreien Himmel wurden erhört“, scherzt Stewart-Smith in seiner kurzen Ansprache. Auch Natasha Jouhl, die Darstellerin der Tatjana, wirkt erleichtert. Vor Beginn der Darstellung hatte die junge Sopranistin erzählt, dass sie kaum das Orchester hören kann, wenn der Regen zu laut auf das Zeltdach trommelt.

Natasha und die anderen Sänger sehen Stanley Hall als einen Schauplatz für junge Talente und ein Startbrett für zukünftige große Karrieren auf berühmten Bühnen. Für Christopher ist die Bauernhaus-Oper nach elf Jahren ein anspruchsvolles und aufwendiges Hobby geworden, das fast seine ganze Zeit verschlingt. Er macht keine Werbung in den Medien und lädt niemals Kritiker ein, trotzdem sind die Vorstellungen meistens ausverkauft. „Ich bin dagegen, diese Kunst zu kommerzialisieren, das würde nur das schöne Gefühl eines privaten Festes trüben“, erklärt der schöngeistige Bauer, der sich 2011 mit „Eugen Onegin“ einen alten Herzenswunsch erfüllt hat.

Nach der Pause kehren manche Zuschauer auffällig wankend auf ihre Plätze zurück: Offenbar wurde im Picknickzelt zwischendurch wieder kräftig gefeiert. Die Vögel trällern der untergehenden Sonne hinterher. Im Feld hinter der Bühne sieht man Hasen hoppeln. Als das Orchester wieder leise einsetzt, ruft der Kuckuck. Es wirkt so natürlich, als hätte Tschaikowski in seinem Meisterwerk den Vogelpart vorgesehen.

Von unserem Londoner Korrespondenten Alexei Makartsev