20 Jahre „Nevermind“: Als Nirvana die Musikwelt veränderte

20 Jahre Nevermind
Legendäres Album, legendäre Plattenhülle: Laut Kurt Cobain soll die Idee zu dem Foto entstanden sein, als er und Schlagzeuger Dave Grohl im Fernsehen einen Bericht über Unterwassergeburten gesehen haben. Das Foto zeigt den drei Monate alten Spencer Elden. Die Plattenfirma Geffen ließ ein alternatives Cover anfertigen, weil sie wegen des deutlich zu erkennenden Penis Ärger befürchtete. Cobain weigerte sich aber. Foto: Universal

1989 reiste der britische Journalist Everett True für das Musikmagazin Melody Maker nach Seattle. Sein Auftrag: Er sollte die lokale Musikszene und das aufstrebende Plattenlabel Sub Pop unter die Lupe nehmen. Was er erlebte, beeindruckte ihn tief. In seinem Artikel feierte er die Stadt im amerikanischen Nordwesten wegen ihres großen Potenzials an talentierten Musikern bereits als „Seattle: Rock City“. Eine Band hatte es True besonders angetan: Nirvana.

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1989 reiste der britische Journalist Everett True für das Musikmagazin Melody Maker nach Seattle. Sein Auftrag: Er sollte die lokale Musikszene und das aufstrebende Plattenlabel Sub Pop unter die Lupe nehmen. Was er erlebte, beeindruckte ihn tief. In seinem Artikel feierte er die Stadt im amerikanischen Nordwesten wegen ihres großen Potenzials an talentierten Musikern bereits als „Seattle: Rock City“.

Eine Band hatte es True besonders angetan: „Im Grunde ist das das wahre Ding: kein Rockstargehabe, keine intellektuelle Perspektive, kein Plan zur Erringung der Weltherrschaft“, schrieb er im März 1989 über Nirvana. Paradoxerweise machten diese Anti-Rockstars Seattle zwei Jahre später zur weltweiten Hauptstadt der Rockmusik. Verantwortlich dafür war ein Album, das heute vor 20 Jahren veröffentlicht wurde: „Nevermind“.

Nirvana – Bleach (1989) Nirvana, bevor sie Weltstars wurden. Ein Sound, der noch nicht (wie bei „Nevermind“) auf Radio getrimmt wurde, eine Wut und Verzweiflung, die noch offener hervortritt. Auch wenn manche Werke musikalisch noch deutlich unbeholfener klingen als bei den späteren Nirvana-Platten, ist „Bleach“ ohne Wenn und Aber ein Meilenstein. Alles, was Nirvana und den Grunge später groß gemacht hat, ist hierauf zu finden. „Bleach“ war auch die Basis für den überragenden Live-Erfolg der Band, immer wieder wurden Stücke dieses Albums gespielt. Darüber hinaus enthält „Bleach“ mit „About a girl“ einen der besten Nirvana-Songs aller Zeiten.

Soundgarden – Badmotorfinger (1991) Größeren kommerziellen Erfolg hatten Soundgarden mit anderen Alben, musikalische bedeutender und besser als auf „Badmotorfinger“ waren sie allerdings nicht mehr – wohl auch, weil die Band später heillos zerstritten war. „Badmotorfinger“ enthält mit „Rusty Cage“, „Jesus Christ Pose“ und vor allem „Outshined“ gleich drei Klassiker des Grunge und ist ohne Frage ein Standardwerk. Die Verbindung zwischen dem schweren Sound der Band und der hohen Stimme Chris Cornells gibt Badmotorfinger einen einzigartigen Sound, ähnlich wie Temple of the Dog haben Soundgarden aber auch hier den Mut, bei aller Wut und Kraft starke Melodien zuzulassen.

Alice in Chains – Jar of flies (1994) Alice in Chains, ebenfalls eine der Ur-Bands des Grunge, waren von jeher eine der düsteren Gruppen des Genres, normalerweise drückte sich das aber durch tiefe Gitarren und dumpfes Schlagzeug aus. Bei der EP „Jar of Flies“ versuchen es Alice in Chains mit ruhigeren Tönen – und landen damit einen Volltreffer. Wenn Laney Staley im Opener „Rotten Apple“ über verlorene Unschuld und zerbrochene Träume singt, darf man das auch durchaus auf die Situation des Grunge beziehen, der zu dieser Zeit auf dem besten Weg war, ein vollkommen durchorganisiertes Industrieprodukt zu werden. Auch um die Band selbst stand es zu diesem Zeitpunkt nicht gut, sie ging nach „Jar of flies“ zunächst in eine Pause auf, wohl auch aufgrund der Drogenprobleme des Sängers. Ein tieftrauriges Album, das aber auch aus heutiger Sicht musikalisch überragend ist.

Hole – Live through this (1994) Courtney Love, für Fans ein Ikone, für Kritiker die Yoko Ono des Grunge, war schon damals mehr als umstritten. Immer wieder tauchte der Vorwurf auf, Love würde nur im Windschatten ihres Mannes Kurt Cobain den Erfolg suchen, ja seine Musik gar kopieren. Viel eher wahr ist hingegen, dass Hole im Grunde nur ein relevantes Album produziert haben: „Live through this“. Das ist dafür allerdings ein gewaltiges. Fast jeder Song hat Hitpotenzial, die Texte sind clever, das Verhältnis zwischen Krach und Melodie perfekt austariert. Fünf Tage vor der Veröffentlichung beging Kurt Cobain Selbstmord, vor diesem Hintergrund wirken viele Textpassagen noch ergreifender. In vielen Momenten scheint das Album ein vertonter Hilfeschrei zu sein.

Mad Season – Above (1995) „Above“ ist der Schlussakkord zu den Boom-Jahren des Grunge. Layne Staley (Alice in Chains), Mike McCready (Pearl Jam), Barrett Martin (Screaming Trees) und John „Baker“ Saunders (The Walkabouts) ziehen einen ruhigen und traurigen Schlussstrich: Kurt Cobain hat sich erschossen, die einst so zusammengeschweißte Seattle-Szene scheint zerbrochen, und die ersten Bands, die den Stil uninspiriert mehr schlecht als recht kopieren, feiern Charterfolge. „Wake up“ (zu Deutsch: Wach auf) heißt das erste Stück – wohl auch ein Statement, dass der große Traum vorbei ist. John Saunders stirbt vier Jahre später an Heroin, Layne Staley sieben Jahre später an einem Mix aus Heroin und Kokain. Mad Season – verrückte, traurige Zeiten.

Sun – Murdenature (1992) Grunge zog weltweit Kreise, längst hatte Seattle nicht mehr das Soundmonopol. Auch in Deutschland versuchten sich Bands an dem neuen Klang. Die wohl beste von ihnen war Sun aus Mönchengladbach. Kraftvoll, mit cleveren Texten und einem Gespür für Melodien erspielten sich Sun einen großen Fankreis. Hinzu kam die raue und facettenreiche Stimme von Sänger Jörg Schröder. 1992 ging die Band als Vorgruppe von Pearl Jam auf Tour – der verdiente Ritterschlag.

Green River – Rehab Doll/Dry as a bone (1988) Zwei Mitglieder der späteren Mudhoney (Mark Arm, Steve Turner), zwei Mitglieder der späteren Pearl Jam (Jeff Ament, Stone Gossard) – macht die (vielleicht) erste Grungeband. Wer sich für die Anfänge des Grunge und seine Wurzeln interessiert, kommt um Green River nicht herum – und wird nicht enttäuscht. Zwar finden sich hier nicht einmal ansatzweise die späteren Melodien und Harmonien, die Pearl Jam und teilweise Nirvana groß gemacht haben, dafür aber Grunge in seiner ursprünglichsten Form: dreckig, punkig, laut.

Mudhoney – Superfuzz Bigmuff (1989) Nachdem Mark Arm und Steve Turner Green River im Streit verlassen hatten, wandten sie sich ganz den 1987 gegründeten Mudhoney zu – und wurden mit ihrer Band zum ersten Flaggschiff des Grunge. Verzerrte Gitarren, Rückkopplungen, ruhige Passagen, explosive Ausbrüche und dazu eine der markantesten Stimmen des Genres – Mudhoney liefern mit dieser Platte so etwas wie die Blaupause für den Grunge. Ein Pflichtkauf für Fans des Genres und die, die es werden wollen. Allerdings macht es die Platte dem Ersthörer nicht einfach, auch hier steht der Krach deutlich vor der Melodie.

Temple of the Dog – Temple of the Dog (1991) Chris Cornell (Soundgarden), Matt Cameron (damals beide Soundgarden), Jeff Ament, Stone Gossard, Mike McCready und Eddie Vedder (später alle Pearl Jam) – Temple of the Dog sind die Übergruppe des Grunge. Anlass zur Bandgründung war allerdings ein äußerst trauriger: Mother-Love-Bone-Sänger und Mitbewohner von Chris Cornell, Andy Wood, war an einer Überdosis gestorben – die CD war die Musik seiner Freunde zum Abschied. Entsprechend ruhiger klingt das Album in weiten Teilen, aber auch wütend und zerrissen. Und es zeigt schon auf, dass Grunge auf dem Weg ist, weniger dreckig, dafür etwas melodiöser zu werden.

Pearl Jam – Vitalogy (1994) Im Vergleich zu Ursprungsbands wie Mudhoney oder Green River war der Sound von Pearl Jam immer massenkompatibler. Aber wenn die Band irgendwann nah an den rohen, rotzigen Sound dieser Bands herangekommen ist, dann auf „Vitalogy“, dem dritten Album der Band. Textlich geht es nach den beiden extrem erfolgreichen Alben „Ten“ und „Vs.“ um Erfolgsdruck, den Verlust der Privatsphäre und Abgrenzung. Auch der Niedergang des Grunge beschäftigt die Band, das Zerbrechen des gewohnten musikalischen Umfelds, die Probleme vieler befreundeter Musiker. Doch wo Alice in Chains in eine tiefe Traurigkeit verfallen, lassen Pearl Jam ihrer Wut freien Lauf – und spielen mit „Not for you“ einen Hit ein, der wohl die geheime Hymne des Grunge ist.

„Das ist natürlich ein Meilenstein der Popgeschichte“, sagt Udo Dahmen, Professor an der Popakademie Baden-Württemberg. Und das liegt nicht nur daran, dass das Album bis heute rund 30 Millionen Mal verkauft wurde. Denn „Nevermind“ wurde durch seinen exorbitanten Erfolg zum Türöffner für all die Bands, die sich als Gegenentwurf zu den klassischen Rockstars wie Guns N’Roses sahen. Zunächst profitierten vor allem die Weggefährten aus Seattle: Pearl Jam, Soundgarden und Alice In Chains verkauften ihre damals aktuellen Alben ebenfalls millionenfach. Das lag zum einen natürlich an der hohen musikalischen Qualität der Bands, zum anderen aber auch daran, dass die großen Plattenfirmen die vielversprechendsten Formationen schon vor dem Durchbruch von Nirvana unter Vertrag genommen hatten und nun eine riesige Marketingmaschinerie in Gang setzen konnten. Der Begriff „Grunge“ wurde zum Qualitätssiegel für den Sound aus Seattle.

Soundgarden – Badmotorfinger (1991) Im Gegensatz zu Nirvana klangen Soundgarden immer mehr nach Black Sabbath als nach den Sex Pistols. Wer den Beweis dafür haben möchte, muss sich nur das mächtige Gitarrenriff zum Song „Outshined“ auf „Badmotorfinger“ anhören. Das Quartett gehört aber natürlich trotzdem zu den wichtigsten Vertretern der Grunge-Ära, waren Soundgarden doch die erste Band dieser Zeit, die 1989 den Schritt von dem in Seattle ansässigen Sub-Pop-Label zu einer großen Plattenfirma wagte – mit noch überschaubarem Erfolg. Ihr drittes Album „Badmotorfinger“, nur zwei Wochen nach Nirvanas „Nevermind“ veröffentlicht, war da schon wesentlich erfolgreicher und überzeugt mit großartigen Songs wie „Room a thousand years wide“ oder „Jesus Christ Pose“. Zudem fasste Frontmann Chris Cornell im Text zu „Outshined“ die Grundhaltung der Musiker aus Seattle in nur zwei Textzeilen zusammen: „I’m looking California and feeling Minnesota“. Nach oben wollten sie alle, der Rockstar-Glamour war ihnen aber fremd.

Alice In Chains – Dirt (1992) Alice In Chains hatten mit ihrem Debüt „Facelift“ schon 1990 einen Achtungserfolg errungen: Das Album landete auf Platz 42 der US-Charts. „Dirt“, eine Woche nach Nirvanas „Nevermind“ veröffentlicht, sorgte für den endgültigen Durchbruch. Zuvor eher dem Metal-Lager zugerechnet, sorgte die Plattenfirma dafür, dass nun jeder erfuhr, dass auch Alice In Chains aus Seattle kamen. Die Band um den introvertierten Sänger Layne Staley und den Gitarristen Jerry Cantrell spielte mit Sicherheit den düstersten Sound der Stadt. Zum unverkennbaren Alice-In-Chains-Stil gehörten harte, bisweilen schräge Gitarrenriffs und harmonische, zweistimmig vorgetragene Refrains. Auf „Dirt“ hatte die Band diesen Sound perfektioniert („Would?“) und ließ es zudem auch gerne mal etwas ruhiger angehen („Rooster“, „Down in a hole“). An Intensität verlor sie allerdings nicht – im Gegenteil. Dass Staley die tief traurigen und aufwühlenden Texte so authentisch vortrug, hatte einen guten Grund: Er hatte massive Drogenprobleme und kämpfte stets darum, sein Leben in den Griff zu bekommen. Am 5. April 2002, genau acht Jahre nach Kurt Cobains Selbstmord, verlor er den Kampf und starb einsam an der Überdosis einer Mixtur aus Heroin und Kokain. Seine Leiche wurde erst zwei Wochen später in seiner Wohnung gefunden.

Nirvana – In utero (1994) Er würde lieber sterben, als ein zweites „Nevermind“ aufzunehmen, hatte Kurt Cobain 1993 erklärt. Gesagt, getan: „In utero“ ist definitiv keine Neuauflage des Albums, das Nirvana für eine kurze Zeit zur größten Band des Planeten machte. „In utero“ ist aber auch kein schlechtes Album – im Gegenteil: Es ist nur rauer, mit weniger Hitpotenzial – eigentlich genau das Album, das man von dem Anti-Rockstar Cobain erwartet und das dessen Plattenfirma befürchtet hatte. Sieht man von „Heart-shaped box“ und „Rape me“ ab, muss man „In utero“ als Gesamtwerk deutlich mehr Zeit geben als „Nevermind“. Besser als sein Vorgänger wird das Album dadurch zwar nicht, es kommen allerdings einige Perlen zum Vorschein. Das wunderbare „Pennyroyal tea“ ist vielleicht die wertvollste darunter. Auch wenn Cobain später behauptete, „In utero“ sei das unpersönlichste Album, das er je gemacht hätte, so ist seine Präsenz in jeder Sekunde, in jedem Wort zu spüren. Genau so intensiv, wie er lebte, war auch seine Musik. Das wird auch auf „In utero“ hörbar.

Mad Season – Above (1995) Nach Temple Of The Dog waren Mad Season die zweite Supergroup der Grunge-Ära – allerdings etwas weniger hochkarätig besetzt als die erste. Mad Season begann im Prinzip als „Reha-Maßnahme“, denn Mike McCready (Pearl Jam) und John Baker Saunders (The Walkabouts) hatten sich in einer Entzugsklinik getroffen und angefangen, gemeinsam Songs zu schreiben. Komplettiert wurde die Band schließlich durch Layne Staley (Alice In Chains) und Barrett Martin (Screaming Trees). Zu Unrecht kam „Above“ bei der Musikpresse nicht gut weg, denn das Album gehört definitiv zu den Besten dieser Zeit. Die meist ruhigen, oft etwas psychedelisch wirkenden Stücke lassen die Stimme Staleys noch eindringlicher erscheinen als gewohnt. „Above“ kann zwar noch der ausklingenden Grunge-Ära zugeordnet werden, hat aber nichts mehr mit Punk zu tun. Bei „Artifical red“ hört man deutliche Blues-, bei „Long gone day“ sogar Jazzeinflüsse heraus. Aber auch richtige Rocknummern („Lifeless dead“) sind vertreten. Besonders gelungen sind aber vor allem „Wake up“, „X-ray mind“ und „River of deceit“. Ein zweites Album konnte die Band nicht veröffentlichen. 1999 starb Saunders an einer Überdosis Heroin, Staley folgte ihm drei Jahre später.

Mother Love Bone – Apple (1990) Mother Love Bone hatte man eigentlich das zugetraut, was Nirvana später schaffen sollten. Doch der Durchbruch blieb der Band um die späteren Pearl-Jam-Mitglieder Stone Gossard und Jeff Ament versagt. Das lag nicht daran, dass ihr die musikalische Qualität oder gar der Plattenvertrag fehlte. Mit „Apple“ hatten Mother Love Bone gerade ein Album eingespielt, das durchaus das Zeug dazu gehabt hätte, ein großes Publikum anzusprechen, weil es im Prinzip – und das war neu für die Seattle-Szene – ein klassisches Rockalbum war. Doch drei Monate vor der Veröffentlichung starb Sänger Andrew Wood an einer Überdosis Heroin. Nach dem Schock entschieden sich Gossard und Ament dazu, ihren gemeinsamen Weg, der bei der Band Green River begann, fortzusetzen. Aus den Trümmern von Mother Love Bone entstand Pearl Jam. Die Songs von „Apple“ wurden infolge des Siegeszuges des Grunge 1992 als Doppelalbum (siehe Abbildung) wiederveröffentlicht und erlangten so späten Ruhm. Mit dem grandiosen „Crown of thorns“ enthält das Album nicht nur das „Stairway to heaven“ dieser Zeit, sondern ist gleichzeitig auch ein Zeugnis des Reifungsprozesses des Songschreiber-Duos Gossard/Ament.

Soundgarden – Superunknown (1994) Zehn Jahre nach ihrer Gründung befanden sich Soundgarden auf dem Zenit ihres Könnens. Dabei neigte sich die große Phase Seattles schon dem Ende zu, als ihr viertes Album „Superunknown“ im März 1994 veröffentlicht wurde: Um Kurt Cobain und Nirvana stand es nicht besonders gut, und Pearl Jam zogen sich freiwillig immer mehr zurück. Soundgarden füllte die Lücke aus, die so entstanden war. „Superunknown“ aber als Lückenbüßer zu bezeichnen, wird dem Album nicht gerecht. Soundgarden hatten sich weitgehend von ihrem alten, an Black Sabbath orientierten Stil gelöst und schöpften nun die Fülle an Möglichkeiten, die sich durch die Öffnung für andere Einflüsse ergab, voll aus. Dem Quartett um Frontmann Chris Cornell schien zu dieser Zeit alles zu gelingen. Sogar der Straßenkünstler Artis The Spoonman, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mit Löffeln Musik zu machen, wurde in einen Song integriert. Sein „Löffelsolo“ in dem nach ihn benannten „Spoonman“ ist schlichtweg genial. Und Soundgarden hatten noch mehr geniale Momente. „Fell on black days“, „The day I tried to live“, „Like suicide“... Die Liste ist lang und enthält natürlich auch den bekanntesten Soundgarden-Song „Black hole sun“. Das Video dazu lief in Dauerrotation auf MTV, „Superunknown“ wurde zur Nummer eins in den US-Billboard-Charts und Soundgarden räumten zudem noch zwei Grammys ab. Richtig froh wurden sie aber durch den Erfolg nicht. Zwei Jahre nach „Superunknown“ lösten sie sich auf.

Screaming Trees – Sweet Oblivion (1992) Als Nirvana „Nevermind“ veröffentlichten, hatten die Screaming Trees schon sechs gemeinsame Bandjahre auf dem Buckel. In die Liga der ganz großen Bands aus Seattle schaffte es die Formation um Sänger Mark Lanegan und die schwergewichtigen Brüder Van (Bass) und Gary Lee Conner (Gitarre) aber nie. Auch „Sweet Oblivion“, zur Grunge-Hochzeit im September 1992 veröffentlicht, brachte den Screaming Trees nicht den Erfolg, den Nirvana und Co. längst hatten. Dabei hatte eigentlich alles gepasst: Mit ihrem sechsten Album befand sich die Band zur richtigen Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. „Sweet oblivion“ ist ein reifes, fast perfektes Rockalbum. Zum Glück nur fast perfekt, denn die Band bewahrte sich trotz professioneller Produktion ihre raue Schale. Dafür sorgte Mark Lanegan, dessen Reibeisenstimme schon damals stark an Tom Waits erinnerte. Mit „Nearly lost you“ ist auch der größte Hit der Band auf dem Album vertreten. Die ganze Klasse der Screaming Trees wird einem aber vor allem durch Songs wie „Troubled times“ bewusst. Übrigens: Mark Lanegan veröffentlichte auch diverse Soloalben. Auf seinem Debüt „The winding sheet“ (1990) waren Kurt Cobain, der sich damals noch Kurdt Kobain schrieb, und Krist Novoselic von Nirvana als Gastmusiker zu hören. Von diesem Album stammt auch „Where did you sleep last night?“, das Nirvana 1994 auf ihrem legendären Live-Album „MTV Unplugged in New York“ nachspielten.

Temple Of The Dog – Temple Of The Dog (1991) Der Titel des ersten Stücks sagt bereits alles: „Say hello 2 heave“ ruft Chris Cornell seinem ehemaligen Mitbewohner und Freund Andy Wood zu, der im März 1990 an einer Überdosis Heroin gestorben war. Ihm wollte der Soundgarden-Frontmann zusammen mit Matt Cameron (Soundgarden) und Woods ehemaligen Bandkollegen von Mother Love Bone, Stone Gossard und Jeff Ament, ein musikalisches Denkmal setzen. Gossard und Ament arbeiteten zu dieser Zeit parallel an ihrem neuen Bandprojekt (damals noch Mookie Blaylock, später Pearl Jam) und brachten Mike McCready und Eddie Vedder mit zu den Sessions mit Cornell und Cameron, aus denen ein ganzes Album entstehen sollte: „Temple Of The Dog“. Die erste Supergroup dieser Szene. Und vielleicht ist das Album deshalb so einzigartig, weil noch keinem der Mitglieder zum Zeitpunkt der Aufnahmen bewusst war, dass sie alle zu Rockstars werden würden. Die zehn Songs sind so ergreifend und schön, gleichzeitig aber auch so kraftvoll und rau, dass die Spannung der Zeit förmlich greifbar wird. „Temple Of The Dog“ verbindet die Stärken von Soundgarden und Pearl Jam und zeigt obendrein, welche Verbundenheit damals zwischen den Musikern aus Seattle bestand. Nach der Trennung von Soundgarden stieg Cameron übrigens als Schlagzeuger bei Pearl Jam ein. Wenn Cornell heute bei Konzerten der Band als Gastmusiker vorbeischaut, im Duett mit Vedder „Hunger strike“ zelebriert und so für eine kurze Wiedervereinigung von Temple Of The Dog sorgt, dann wird sie wieder spürbar, die Magie von damals.

Pearl Jam – Ten (1991) Was viele nicht wissen: Pearl Jams Debüt „Ten” wurde bereits einen Monat vor Nirvanas „Nevermind“ veröffentlicht, profitierte dann aber natürlich von dem Erfolg der ebenfalls aus Seattle stammenden Kollegen. Dabei unterschieden sich Pearl Jam musikalisch deutlich von Nirvana. Ihr Sound war weniger vom Punk und mehr von Led Zeppelin und The Who beeinflusst. Aber auch sie verfügten mit Eddie Vedder über einen charismatischen Frontmann und über ein schier unerschöpfliches Repertoire an tiefgehenden Rocksongs. Die Videos zu „Alive“, „Even flow“ und „Jeremy“ liefen im Musikfernsehen in Dauerrotation. „Jeremy“ wurde überdies mit vier MTV-Awards ausgezeichnet. „Ten“ hatte aber noch deutlich mehr zu bieten als diese drei Songs: „Porch“ und „Once“ spiegeln die unbändige Kraft wider, die auch die Liveauftritte der Band auszeichnet. Vor allem die ruhigeren Stücke wie „Black“, „Oceans“ oder „Release“ gehen unter die Haut und ließen schon damals vermuten, dass sich mit den Seattle-Urgesteinen Stone Gossard und Jeff Ament (zuvor gemeinsam bei Green River und Mother Love Bone), dem Gitarristen Mike McCready und Eddie Vedder ein ungewöhnlich gut harmonierendes Songschreiberkollektiv gefunden hatte. Empfehlenswert ist die 2009 veröffentlichte Neuauflage des Albums, die in der so genannten Deluxe-Edition auch noch eine DVD des sehenswerten Auftritts bei MTV-Unplugged aus dem Jahr 1992 enthält.

Pearl Jam – Vs. Nach dem überwältigenden Erfolg ihres Debütalbums „Ten” hätten Pearl Jam nach den Sternen greifen können. Nur: Die Band wollte nicht. Sie befürchtete, vom Business aufgefressen zu werden, vor lauter Terminen die Musik zu vernachlässigen. Statt also dort weiter zu machen, wo sie mit „Ten“ aufgehört hatten, machten Pearl Jam einen Schnitt und drehten dem Mainstream-Publikum einfach den Hahn ab. Die Band weigerte sich, Musikvideos zu drehen, boykottierte später sogar Interviews und legte mit „Vs.“ ein Album vor, auf dem man Hymnen wie „Alive“ vergeblich suchte. Die Angst vorm Erfolg ging damals sogar so weit, dass man den Song „Better Man“ – erst später auf „Vitalogy“ veröffentlicht – aussortierte, weil er zu viel Hitpotenzial hatte. Doch aller Vorsicht zum Trotz brach das Album alle Rekorde: 950 000 Einheiten wurden in den USA alleine in der ersten Woche verkauft – eine nie zuvor erreichte Zahl. Pearl Jam hatten Nirvana, die eine Woche zuvor ihren „Nevermind“-Nachfolger „In utero“ veröffentlicht hatten, deutlich abgehängt. Dass „Vs.“ letztendlich nicht die Verkaufszahlen von „Ten“ erreichte, lag sicher an der Kompromisslosigkeit, mit der die Band ihre Linie durchzog, und daran, dass sie es sich in den USA mit der konservativen Käuferschicht verdarb, weil sie immer deutlicher Stellung gegen die Waffengesetze oder für die Selbstbestimmung der Frauen in der Abtreibungsfrage bezog. Musikalisch ist „Vs.“ keinen Deut schlechter als „Ten“ – nur noch kraftvoller, noch emotionaler. Manchmal glaubt man, Sänger Eddie Vedder vor Wut schnauben zu hören, manchmal singt er so einfühlsam, dass es einen in Gedanken weit fortträgt. Die Liste der Hochkaräter auf „Vs.“ ist lang: „Animal“ rammt einen wie ein Bulldozer, „W.M.A.“ überzeugt durch seine Experimentierfreude, „Rearviewmirror“ lässt einen nicht stillstehen, „Daughter“, „Elderly woman behind the counter in a small town“ und „Indifference“ sind einfach nur schön. Ein grandioses Album – es sollte nicht das letzte dieser Band sein.

Dabei sagt das Wort Grunge, das so viel bedeutet wie Müll oder Schmuddel, weniger über die Art der Musik aus. „Grunge ist ein gemachter Stil. In Seattle gab es eine Vielzahl unterschiedlicher Bands unterschiedlichen Stils. Was alle vereinte, war, dass sie ein hohes Aggressionspotenzial hatten und post-punk waren“, sagt Dahmen. Darüber hinaus hatten die Bands etwas zu bieten, was Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in der Rockmusik fast ausgestorben schien: Glaubwürdigkeit. Showeffekte, Spandexhosen und große Posen wichen Intensität, Holzfällerhemden und halsbrecherischen Flugmanövern ins Publikum. Der Musiker auf der Bühne war nicht länger ein unerreichbarer Rockstar, sondern ein Mensch wie jeder andere auch – mit Problemen, die jeder hatte, und Kleidung, die sich jeder leisten konnte. Kein Zufall also, dass Jugendliche Anfang der 90er-Jahre vermehrt mit Holzfällerhemden und langen Haaren unterwegs waren.

Nirvana-Frontmann Kurt Cobain entwickelte sich in seiner Zerrissenheit zur Symbolgestalt dieser musikalischen Bewegung. Tragisch, dass sein Kampf gegen die kommerzielle Ausschlachtung seiner Musik zum kommerziellen Erfolgskonzept wurde. So sollen viele Ideen für das Low-Budget-Video zur ersten Single „Smells like teen spirit“ von ihm stammen – gegen den Willen der Plattenfirma. Dass das Video im damals deutlich einflussreicheren Musikfernsehen trotzdem oder gerade deshalb fast stündlich wiederholt wurde, zeigt, wie sehr er den Nerv der Jugend traf. „Dieses unfertige Abiball-Video war im Prinzip genau das, was die Kids damals in der Grunge-Szene gesehen haben“, sagt auch Dahmen. „Das war eine der letzten großen Bewegungen, die das Musikfernsehen ausgelöst hat.“

Mit dem Selbstmord Kurt Cobains am 5. April 1994 endete die Geschichte von Nirvana. Er wurde – wie viele andere bedeutende Musiker auch – nur 27 Jahre alt. Seine Bedeutung für die Rockmusik richtig einzuordnen, fällt in der Rückschau schwer. Seine Glorifizierung als alleiniger Heilsbringer hält Udo Dahmen zu einem Großteil für „posthume Verklärung“. „Es gab viele Musiker, die damals eine tragende Rolle gespielt haben.“ Pearl Jam und die Foo Fighters um den damaligen Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl gehören überdies hinaus noch immer zu den einflussreichsten Musikern unserer Zeit.

Trotzdem hat Cobain mit seiner Band den Weg geebnet, den später neben den Kollegen aus Seattle auch Bands wie die Stone Temple Pilots oder Rage Against The Machine beschreiten konnten. Sie alle setzten der puren Show Authentizität und Leidenschaft entgegen. Nirvana haben eine neue Tür für die Rockmusik geöffnet. „Nevermind“ war der Schlüssel dazu.

Von unserem Redakteur Volker Schmidt