Frankfurt/Main (dpa) – Der neue Timo Boll hat mit 18 Jahren schon zwei olympische Medaillen gewonnen. Der neue Timo Boll füllt in seiner Heimat gerade jede Halle. Das Problem für den erfolgsverwöhnten deutschen Tischtennis-Sport ist nur: Der neue Timo Boll kommt aus Frankreich und heißt Felix Lebrun. Und er hat noch einen Bruder namens Alexis, der auch erst 21 Jahre jung und gerade zum ersten Mal Europameister geworden ist.
In Frankfurt am Main läuft noch bis Sonntag das einzige internationale Top-Turnier, das in Deutschland stattfindet. Und dort ist gut zu sehen: Im Tischtennis ist gerade vieles in Bewegung. Doch die Zeit arbeitet dabei gegen das deutsche Team.
Die beiden Lebruns. Der Olympia-Zweite Truls Möregardh (22) aus Schweden. Die jungen Chinesen Wang Chuqin (24) und Lin Shidong (19) auf den Plätzen eins und zwei der aktuellen Weltrangliste: Das sind die neuen Gesichter, denen auf deutscher Seite auch nach dem Rückzug des Rekord-Europameisters Boll immer noch dessen langjährige Teamkollegen Dimitrij Ovtcharov (36), Patrick Franziska (32) und Dang Qiu (28) gegenüberstehen.
«Ich bin sehr entspannt, was die Olympischen Spiele 2028 angeht. Aber für 2032 brauchen wir definitiv zwei, drei neue Spieler. Wir müssen eine neue Generation aufbauen», sagt Bundestrainer Jörg Roßkopf.
Seit 2010 ist der frühere Doppel-Weltmeister der Cheftrainer der deutschen Männer. Und seitdem gewannen seine Spieler im Einzel, Doppel und mit dem Team insgesamt 47 Medaillen bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Olympischen Spielen.
Doch Roßkopf weiß auch: Die Erfolge von Ovtcharov und Boll haben «ein, zwei Generationen blockiert». Benedikt Duda erreichte im Oktober das Endspiel einer EM. Ricardo Walther steht in Frankfurt im Viertelfinale. Aber auch sie sind schon 30 und 32 Jahre alt.
Viel frischer Wind durch Lebrun-Erfolg
Dass vor allem die Lebrun-Brüder gerade die Tischtennis-Welt aufmischen, wird von den Deutschen trotzdem nicht nur als Bedrohung wahrgenommen. Im Gegenteil. «Durch die Lebruns kommt gerade sehr viel frischer Wind rein. Und das zieht auch die anderen mit. Es ist super für unseren Sport», sagt Patrick Franziska.
Bei Olympia in Paris wurden bei den Spielen von Felix Lebrun Dezibel-Werte wie in einer Disco ermittelt – so laut war es in der Halle. Das gleiche Spektakel wiederholte sich vor zwei Wochen, als der 18-Jährige das WTT-Champions-Turnier in seiner Heimatstadt Montpellier gewann.
Sein Aufstieg erinnert an den jungen Boll, der mit 16 Jahren sein erstes Länderspiel bestritt und mit 21 auf Platz eins der Weltrangliste stand. «Der große Unterschied zu mir ist: Als ich 15 war, habe ich vielleicht an zwei Tagen in der Woche zweimal trainiert. Ansonsten habe ich manchmal noch mit ein paar Kumpels im Freibad an der Steinplatte gespielt», sagt Boll. Felix Lebrun dagegen habe «mit 18 Jahren schon so viele Stunden mehr in der Halle gestanden, als ich das mit 18 getan habe.»
Der Onkel der Lebruns war selbst die Nummer 14 der Weltrangliste. Auch ihr Vater spielte zeitweise als Profi. Die Familie hat den Aufstieg der beiden Brüder komplett an den Strukturen des französischen Verbands vorbei organisiert. Und auch darin sieht Boll einen Vorteil.
«Die Asiaten pushen unseren Sport brutal. Da haben gefühlt schon Acht- und Neunjährige ein großes Team um sich», sagt er. «Deshalb brauchen auch alle Europäer, die es schaffen wollen, besondere Voraussetzungen. Die Lebruns leben von ihrem Familienkonstrukt. Bei mir ist damals ein gesamtes Bundesliga-Team in meinen Heimatort gezogen.» Damit der junge Boll nach der Schule mit seinen Teamkollegen trainieren konnte.
Lebrun über Boll: «Eine große Inspiration»
Felix Lebrun selbst sieht in Boll ein großes Vorbild. «Er ist eine Legende unseres Sports», sagte er in Frankfurt. «Ich spiele vielleicht nicht sein Spiel – er etwas kontrollierter und ich mit mehr Speed. Aber er war über Jahre der größte Herausforderer der Chinesen. Deshalb ist er für mich eine große Inspiration.»
Das gilt auch für die deutschen Spieler. Vize-Europameister Duda besiegte Lebrun völlig überraschend bei der EM und sagt: «Wenn ich es in die Top 20 geschafft habe, will ich auch in die Top 10.» Sein Weg sei auch mit 30 «noch nicht zu Ende. Dass Karrieren sehr lange gehen können, hat Timo uns allen gezeigt».
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