Berlin

Wenn Menschen nicht mehr leben wollen

Wie groß muss die Verzweiflung sein, dass man seinem Leben ein Ende setzt? Michael Witte, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, sagt: "Die Betroffenen haben ein Gefühl völliger Überlastung und Ausweglosigkeit. Sie glauben, die Krisensituation selbst nicht mehr verändern zu können.

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Berlin – Wie groß muss die Verzweiflung sein, dass man seinem Leben ein Ende setzt? Michael Witte, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, sagt: „Die Betroffenen haben ein Gefühl völliger Überlastung und Ausweglosigkeit. Sie glauben, die Krisensituation selbst nicht mehr verändern zu können. Sie sehen ein Wollknäuel voller Probleme vor sich, das sie nicht entwirren können.“

In Deutschland nehmen sich jährlich mehr als 10 000 Menschen das Leben. Die Dunkelziffer liegt allerdings höher. Experten schätzen sogar, dass man zu den offiziell registrierten Fällen noch bis zu 25 Prozent hinzuzählen muss – beispielsweise Verkehrsunfälle, die in Wahrheit ein Suizid waren.

Die Opfer stammen aus allen sozialen Schichten, statistisch gesehen, machen Frauen ein Drittel aus. Aber: „Bei den Suizidversuchen sind Frauen mit zwei Dritteln überrepräsentiert“, sagt Diplom-Soziologe Witte. Die Chance, bei einem Suizidversuch rechtzeitig entdeckt und gerettet zu werden, ist bei ihnen erheblich größer. „Männer handeln eher unter dem Druck: Wenn ich sonst schon versagt habe, muss ich wenigstens das richtig machen“, sagt Witte.

Doch gleich, ob Mann oder Frau: Suizidgefährdete sind in einer enormen Belastungssituation. Meist kommen dabei mehrere Aspekte zusammen. Konflikte in Beziehungen, Trennungen, Entwurzelung, Isolation, gesellschaftlicher Druck, psychische oder physische Erkrankungen können in der Kombination Gründe für eine Verzweiflungstat sein. Der Betroffene will seine ausweglos erscheinende Situation beenden. „Mir wird das alles zu viel“, sagt er dann. Michael Witte weiß aus Beratungsgesprächen mit Menschen in Lebenskrisen: „Sie fühlen sich von den Problemen erschlagen und wissen einfach nicht mehr, wie es weitergehen soll.“

Familie, Freunde oder Kollegen nehmen zwar Veränderungen wahr, finden aber oft nicht den richtigen Zugang zu dem Menschen. Falsch ist ein Bagatellisieren seiner Probleme nach dem Motto: „Das ist doch alles nicht so schlimm.“ Fehl am Platz sind auch moralische Vorhaltungen oder allgemeine Ratschläge. Hilfreich hingegen ist, den konkreten Druck zu erfragen, die Sorgen ernst zu nehmen, Zeit und Zuwendung zu schenken – und den Betroffenen gegebenenfalls zu einer professionellen Hilfe zu begleiten.

Das Aussprechen und Benennen der Probleme ist ein erster Schritt. Die Erkenntnis, dass man etwas ändern kann und will, ein zweiter. Aus einem „Ich will nicht mehr leben“ kann dann ein „Ich kann nicht so weiterleben wie bisher“ werden.

Aber nicht immer gelingt das – unter anderem deshalb nicht, weil die Situation des Opfers falsch eingeschätzt wird. In den letzten Tagen vor dem Suizid wirken die Betroffenen klarer, entschlossener, manchmal geradezu erleichtert. Familie und Freunde atmen dann auf: „Endlich geht's ihm besser.“ Michael Witte von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention sagt: „In Wirklichkeit ist es der Entschluss, sich das Leben zu nehmen, der dann feststeht.“ Der Tod wird als einziger Ausweg gesehen.

Für die Angehörigen, die zurückbleiben, stellt sich die Frage nach dem Warum. Sie werden geplagt von Schuldgefühlen oder müssen sich gegen Schuldzuweisungen aus dem Umfeld wehren. Geradezu traumatisch ist die Situation für Kinder, die Vater oder Mutter durch Suizid verlieren. „Es ist ein furchtbares Ereignis für sie“, sagt Michael Witte. Kleinkindern sollte man nicht erklären, wie der Elternteil gestorben ist – „sie fragen auch nicht danach“, sagt Witte. „Man sollte nur das beantworten, was sie auch wirklich wissen wollen.“ Bei größeren Kindern ist es wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Diese Trauerarbeit mit Kindern können Angehörige kaum leisten“, sagt Michael Witte.

Informationen auch für Suizidgefährdete gibt es auf Suizidprophylaxe.de

Von unserer Redakteurin Birgit Pielen