RZ-Kommentar: Eine gefühlte Musikrevolution

Grunge hat mein Leben gerettet – mein musikalisches. Anfang der 90er-Jahre hatte ich MC Hammer und Co. hinter mir und suchte nach Neuem. Freunde gaben mir Bon Jovi und Guns N'Roses, was ich beides hörte, aber nicht mochte. Dann lief dieses Video auf MTV: Schulturnhalle, fliegende Haare, verzerrte Nahaufnahmen. Ich kaufte „Nevermind“ – und damit meine musikalische Heimat.

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Grunge hat mein Leben gerettet – mein musikalisches. Anfang der 90er-Jahre hatte ich MC Hammer und Co. hinter mir und suchte nach Neuem. Freunde gaben mir Bon Jovi und Guns N'Roses, was ich beides hörte, aber nicht mochte. Dann lief dieses Video auf MTV: Schulturnhalle, fliegende Haare, verzerrte Nahaufnahmen. Ich kaufte „Nevermind“ – und damit meine musikalische Heimat. Wie das so ist mit 15, 16, lief ich anschließend fast nur noch mit grünen Vans, zerrissener Jeans und grün-weiß gestreiftem, zu großem Pullover auf. Mit diesem Look fand man Feinde („Wer so was hört, hat doch Probleme im Kopf!“, mein Geschichtslehrer), aber noch viel mehr Freunde: Am Wochenende schubsten und schoben wir uns mit gleich gesinnten und gekleideten stundenlang über die Tanzflächen.
Am 14. März 1994 hätten Nirvana in Köln spielen sollen. Nach langen Diskussionen durfte ich eine Karte kaufen. Das Konzert wurde abgesagt, ein Ersatztermin sollte bekannt gegeben werden. Dazu kam es nie: Gut drei Wochen später erschoss sich Kurt Cobain. Ich erfuhr es aus dem Videotext – und fühlte mich noch Tage später irgendwie betrogen. Dass ich am nächsten Schultag komplett in Schwarz auflief, sollte allerdings eigentlich ein Witz sein, bewog aber einen Lehrer nachzufragen, ob mit meinem Seelenleben auch wirklich alles in Ordnung wäre. Neben meinem Musikgeschmack war den Lehrern wohl auch mein Humor damals rätselhaft.
Schriftsteller Frank Goosen hat mal sinngemäß zu „Nevermind“ gesagt, dass er verstand, dass die Platte etwas Großes war, aber die Wut nicht gespürt hat. Bei mir war es umgekehrt. Auch wenn ich nächtelang mit Booklet und Englischwörterbuch versucht habe, Texte zu entschlüsseln, habe ich längst nicht alles verstanden. Aber gefühlt habe ich, was diese Band sagen wollten. So emotional und direkt hat mich seitdem nie wieder Musik getroffen. Es war wohl die Gnade der späten Geburt, die mir erlaubte, eine der letzten großen Musikrevolutionen mehr zu fühlen als zu verstehen – den Grunge.

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