Bruchertseifen

Recht haben und Recht bekommen: Laienjuristin siegt vor dem Verfassungsgericht

Stefanie Tiryaki musste sich durch Bücherberge und Aktenstapel arbeiten, um ihre Verfassungsbeschwerde zu formulieren. Doch die Mühe hat sich gelohnt, sie bekam recht.
Stefanie Tiryaki musste sich durch Bücherberge und Aktenstapel arbeiten, um ihre Verfassungsbeschwerde zu formulieren. Doch die Mühe hat sich gelohnt, sie bekam recht. Foto: Sonja Roos

Recht und Gerechtigkeit gehen leider nicht immer Hand in Hand. Das musste auch Stefanie Tiryaki aus Bruchertseifen (Landkreis Altenkirchen im Westerwald) feststellen. Als ihr Lebensgefährte zu Unrecht eine Haftstrafe auferlegt bekam, setzte die Rechtsanwaltsfachangestellte alle Hebel in Bewegung, kämpfte sich durch Aktenberge und Strafrechtbücher, um am Ende vor der obersten juristischen Instanz, dem Bundesverfassungsgericht, einen Sieg nach Punkten zu erringen.

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Bruchertseifen – Recht und Gerechtigkeit gehen leider nicht immer Hand in Hand. Das musste auch Stefanie Tiryaki aus Bruchertseifen (Landkreis Altenkirchen im Westerwald) feststellen. Als ihr Lebensgefährte zu Unrecht eine Haftstrafe auferlegt bekam, setzte die Rechtsanwaltsfachangestellte alle Hebel in Bewegung, kämpfte sich durch Aktenberge und Strafrechtbücher, um am Ende vor der obersten juristischen Instanz, dem Bundesverfassungsgericht, einen Sieg nach Punkten zu erringen. Begonnen hatte alles 2010.

Weil er eine Rechnung über 104,99 Euro nicht beglichen und auch auf mehrmalige Mahnungen nicht reagiert hatte, flatterte Tiryakis Lebensgefährten eine Anklage wegen Betrug ins Haus. „Wir waren im Stress, hatten uns gerade selbstständig gemacht, die Rechnung war einfach in Vergessenheit geraten. Außerdem ist mein Freund in dieser Hinsicht leider wirklich schlampig“, erzählt Stefanie Tiryaki. Um die Sache aus der Welt zu schaffen, beglich Tiryaki die Rechnung, der Beleg wurde bei Gericht eingereicht als Beweis.

Doch die Schlampigkeit des Lebensgefährten wird ihm letztendlich zum Verhängnis: Denn beim Altenkirchener Amtsgericht ist er beileibe kein Unbekannter. Er hat ein längeres Vorstrafenregister, ist mehrmals einschlägig, also wegen ähnlicher Delikte, vorbestraft. Wohl auch deshalb ist man wenig gnädig mit ihm. Er bekommt eine fünfmonatige Freiheitsstrafe auferlegt – ohne Bewährung. Dazu kommen jetzt weitere fünf Monate, denn eine 2008 verhängte Bewährung wird nachträglich zur Freiheitsstrafe umgewandelt. Er hätte sich drei Jahre nichts zuschulden kommen lassen dürfen. Damit aber nicht genug: Eine im Jahr 2003 verhängte Bewährungsstrafe wird nun ebenfalls widerrufen – der Freund soll nun insgesamt für anderthalb Jahre in Haft sitzen. Stefanie Tiryaki ist entsetzt. Während sie weiß, dass man gegen die beiden Strafen aus 2010 und 2008 wenig ausrichten kann, ist sie sicher: „Die alte Geschichte aus 2003 ist verjährt.“ Das Oberlandesgericht in Koblenz sieht das jedoch anders.

Um Kosten zu sparen, recherchiert die Rechtsanwaltsfachangestellte nun selbst weiter. Zwar hat Stefanie Tiryaki seit 2000 nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet, sie hat aber den Vorteil, dass sie mit einer Akte umgehen, den juristischen Jargon lesen und verstehen kann und vor allen Dingen weiß, wie wichtig es ist, Fristen zu beachten. Sie fordert alle Unterlagen an, liest sich ins Strafrecht ein. „Es war wie ein Jura-Crashkurs“, sagt sie. Sowohl in der Gnadenverordnung als auch im Strafgesetzbuch wird sie fündig: Die Bewährungszeit darf maximal fünf Jahre betragen. Die alte Bewährungsstrafe aus 2003 war also zu Unrecht in eine Haftstrafe umgemünzt worden. Als sie glaubt, Aussicht auf Erfolg zu haben, schaltet sie für das Wiederaufnahmeverfahren erneut einen Anwalt ein. Doch der Antrag wird wieder abgelehnt. „Der Anwalt meinte nur zu mir: ,Nach dem OLG ist der Himmel blau.'“ Für die junge Frau blieb damit nur noch eine Option: das Bundesverfassungsgericht.

Durch den Umgang mit der Materie ist Stefanie Tiryaki mutig geworden – mutig und auch wütend. „Es ist erschütternd, was da teilweise in der Justiz abläuft. Das hab ich nicht nur in unserem Fall gesehen, sondern auch bei einigen Mithäftlingen meines Freundes.“ Die Verfassungsbeschwerde formuliert Tiryaki selbst. Und das Unmögliche wird möglich: Man gibt ihr recht. „Das ist an sich schon ein toller Erfolg, wenn man bedenkt, dass nur etwa 2,5 Prozent aller Verfassungsbeschwerden überhaupt bearbeitet werden“, sagt Tiryaki. Sie erwirkt einen Beschluss gegen das OLG Koblenz. Eine endgültige Entscheidung in der Angelegenheit steht noch aus, jedoch rechnet sich Stefanie Tiryaki gute Chancen aus.

Zwar wird ihr Freund in dieser Woche – nach Verbüßung der gesamten Haftstrafe – endlich entlassen. „Das heißt, die gestohlenen sechs Monate kann ich ihm nicht zurückgeben. Aber es steht ja eine Entschädigung im Raum, wenn wir recht bekommen.“ 25 Euro pro Tag (minus 6 Euro für Verpflegung) könnten bei zu Unrecht abgesessener Haftstrafe auf das Opfer warten. Zudem habe ihr Lebensgefährte für 10 Euro am Tag Vollzeit gearbeitet. Hätte er nicht eingesessen, hätte er seinen normalen Lohn bezogen. Hinzu kommen natürlich auch noch Gerichts- und Anwaltskosten. „Ganz zu schweigen von dem ganzen Porto. Davon könnte man schon eine tolle Party schmeißen“, sagt Tiryaki. Sie selbst will, egal, wie das Verfahren ausgeht, in jedem Fall etwas gegen die träge Justiz tun. „Ich fange jetzt ein Jurastudium an“, kündigt sie an.

Stefanie Tiryaki will ein Buch über die Geschichte schreiben und möchte zudem einen Verein für einsitzende Opfer von Justizirrtürmern gründen.

Bei Interesse kann man sich mit ihr per E-Mail an green-island@web.de in Verbindung setzen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann man unter folgendem Aktenzeichen einsehen: 2BvR1766-12

Von unserer Redakteurin Sonja Roos